Das Geheimnis des grauen Hauses

Drei junge Männer auf der Flucht aus der Aussichtslosigkeit einer immer brutaler, unerträglicher werdenden Gesellschaft. Auf der Suche nach einem Neubeginn, auf der Suche nach verlorener Unschuld. An einem idyllischen, fast unwirklich wirkenden Ort irgendwo im hintersten Riesengebirge scheinen sie Gestalt anzunehmen – die Proletarierträume von Macht und Reichtum, die bürgerlichen Utopien von idealer Erziehung und die adeligen Sehnsüchte nach wahrer Liebe. Doch der Ort steckt voller Rätsel und Geheimnisse.

Ein schräger, poetischer, fast surrealer Krimi voller traum- und albtraumhafter, expressionistischer Bilder, ein tragikomischer Rückblick von zeitloser Aktualität. Eine spannende und unterhaltsame Rarität, wiederentdeckt von den Nestroy-Spezialisten rund um Peter Gruber.

35. NESTROY Spiele Schwechat
Das Geheimnis des grauen Hauses
30. Juni bis 04. August 2007

Regie

Peter Gruber

Regiemitarbeit

Christine Bauer

Bühne

Alexandre Collon

Kostüme

Okki Zykan

Maske

Sigrid Lessel, Manuela Steiner

Musik

Martin Kratochwil

Musikalische Einstudierung

Paul Hille

Bühnenrealisation

Günter Lickel

Lichtdesign

Robby Vamos

Licht- und Tontechnik

Thomas Nichtenberger, Katharina E. Rodax
BLASIUS ROHR Schreiber bei einem Advokaten
Christian Graf
HERR VON SONNENSTERN
Harald Schuh
THEODOR seine Sohn
Florian Haslinger
THEODOR dessen Freund
Alexander Lainer
HERR EISENKORN Rohrs Onkel
Franz Steiner
MADAME BERNING Putzhändlerin
Esther Potesil
BABETT deren Tochter
Dita Hagenhofer
ROCHUS Bedienter des jungen Sonnenstern
Horst Salzer
MARQUISE FOLLEVILLE
Katharina Oberrauch
FRAU VON SALTING
Margarita Prammer
HERR VON HALWIG Freund des alten Sonnenstern
Peter Kuno Plöchl
HERR VON MORBERG
Christoph Schmelzinger
STOCK ein Bauer
Peter Koliander
EVA seine Frau
Bettina Elster
MICHEL deren Sohn
Christoph Schmelzinger
HERR VON KLIPPENBACH
Harald Schuh
AURORA dessen Tochter
Rebecca A. Döltl
MUCKI Bruder des Herrn von Klippenbach
Peter Kuno Plöchl
JOLI ein Hund
Ginger
RIEGEL Torwachter
Peter Koliander
BRIGITTE dessen Tochter
Regine Rieger
FREDERIKE
Danijela Freitag
SABINE SICHEL deren alte Magd
Maria Sedlaczek
HAUSMEISTER
Gerry Leeb
SCHREIBER, BARDAMEN, GESELLSCHAFT, LANDLEUTE, BAUERN, KINDER, DIENER, MUSIKER
Viktoria Fazekas, Gabriele Holzer, Ana Lisa Pinther, Calvin Pinther, David Potesil, Ina Potesil Lisa Rösler, Sabine Stacher, Sissy Stacher und Ensemble

1. Akt
Chor I, 1. – Auftrittslied Blasius I, 2 („Jetzt hab ich heut fünf Klagn copirt“). – Blasius und Brand werden von ihrem alten Schulkameraden Theodor zu einem Ball eingeladen. Theodor ist im Gegensatz zu Blasius und Brand, die beide unter ständigem Geldmangel leiden, sehr reich. – Auftrittslied Rochus I, 5 (R: „Drum ist das Beleuchten vergebliche Müh, / Dann das, was d’Leut sehn solln, das sehn sie doch nie.“). – Während des Balls fällt Blasius durch seine Zudringlichkeit und seine unangebrachte Vertraulichkeit auf. Theodor und seine Freunde setzen ihrerseits alles daran, um Blasius lächerlich zu machen.Vor allem lobt Blasius ständig die Tugenden seiner Geliebten Babette. Unterdessen warten Babette und ihre Mutter in ihrem Laden auf Blasius’ Rückkehr. Madame Berning hält überhaupt nichts von diesem liederlichen Gesellen, doch Babette ist fest davon überzeugt, daß er sie heiraten wird, wenn er das nötige Geld zusammen hat. In diesem Augenblick betritt Herr Eisenkorn den Laden. Er ist Blasius’ Onkel, hat seinen Neffen jedoch noch nie gesehen. Der erstaunten Madame Berning überreicht er die Schenkungsurkunde über eine Fabrik, die sie Blasius aushändigen soll. Bevor er wieder abreist, kündigt er an, in einiger Zeit zurückzukehren, um Blasius „an der Spitze eines florierenden Geschäfts als tüchtigen, soliden Mann“ zu erblicken. Der angetrunkene Blasius wird von Rochus nach Hause gebracht. Als er von der Schenkung erfährt, beschließt er, die Fabrik zu verkaufen. Er will ein Schloß erwerben und stellt Rochus sofort als Diener ein. Von Babette trennt er sich, da sie nun nicht mehr standesgemäß ist. – Chor mit Blasius I, 18.

2. Akt
Blasius, Rochus, Brand und Theodor sind unterwegs zu Blasius’ Schloß „Felsenstein“. Unterwegs hat Blasius seine Kutsche Herrn von Klippenbach und seiner Tochter Aurora geliehen, so daß die Freunde zu Fuß unterwegs sind. Auf die verwöhnte Aurora hat Blasius ein Auge geworfen. Während eines Unwetters suchen die Freunde Schutz bei einer Bauernfamilie. Diese warnt sie vor dem in der Nähe gelegenen grauen Haus, denn dort soll es nicht mit rechten Dingen zugehen. Das graue Haus selbst sei unbewohnt, doch nahebei lebe in einem kleinen Haus inmitten eines Blumenwalds eine junge Hexe mit ihrer alten Dienerin. Sie sei das angenommene Kind einer Bauernfamilie, von der kein Mensch mehr lebe. Das Mädchen sei sehr reich, könne lesen und schreiben, sei also sehr ungewöhnlich für die Gegend. Sofort verlangen die Freunde, an den geheimnisvollen Ort geführt zu werden. – Auftrittslied Brigitte II, 5 (R: „Und Alles ist noch mal so schön, als es war“). – Bei besagtem Haus treffen sie auf die Dienerin Sabine und auf Brigitte, die einzige, die zu den beiden Frauen zu Besuch kommt. Bald stellt sich heraus, daß Rochus, der bereits zum Schloß vorausgereist ist, um einen prächtigen Empfang für Blasius vorzubereiten, Sabines Sohn ist. Friederike zeigt sich von dem neuen Herrn von Felsenstein überhaupt nicht beeindruckt, da er über ihr Anwesen keine Macht hat. Fragen über das graue Haus läßt sie unbeantwortet. – Chor II, 8. – Noch vor Blasius, Brand und Theodor erreichen Herr von Klippenbach, Aurora und ihr Onkel Mucki das Schloß. Sofort fängt Herr von Klippenbach an, kostspielige Umbaupläne zu schmieden. Er will damit feststellen, ob Blasius vermögend genug ist, um ihm Aurora zur Frau geben zu können. Der von Rochus arrangierte, bejubelte Empfang gelingt zu Blasius’ Verdruß nicht ohne Pannen. – Chor II, 5.

3. Akt
Rochus möchte unbedingt das Geheimnis des grauen Hauses ergründen, doch weder Sabine noch Brigitte verraten etwas. Theodor hat sich heftig in Friederike verliebt, doch obwohl sie ihm zugetan ist, verrät auch sie nichts über das Haus. Schließlich beschließen die Freunde, das Haus auf eigene Faust auszuspionieren. – Duett Blasius, Brigitte III, 6 über „Kunst und Natur“. – Beim Durchstöbern des Hauses finden Theodor, Brand und Rochus Stroh und Heu im Stall für ein Pferd, einen gut sortierten Bücherschrank, eine Flasche Wein, Pistolen und Reitstiefel, was auf einen gelegentlichen männlichen Besucher schließen läßt. Voll Eifersucht verläßt Theodor das Haus.

4. Akt 
Auf Klippenbachs Wunsch hin wurde das ganze Schloß mit Gasbeleuchtung ausgestattet. Doch nun hegen Mucki und Klippenbach den Verdacht, daß Blasius das Geld ausgehe. Sie sinnen auf eine gute Gelegenheit, um dem Verhältnis zu Blasius ein Ende zu setzen. Trotz der Entdeckungen im grauen Haus ist Theodor nach wie vor heftig in Friederike verliebt. Um an eine große Belohnung zu kommen, plant Brand, unter Zuhilfenahme von Blasius’ Dienern, Friederike scheinbar zu entführen, um sich dann als ihr Retter hervorzutun. Unterdessen erzählt Theodor Friederike, sein Vater verlange seine baldige Rückkehr in die Stadt und er wolle sie mitnehmen. Er hofft auf diesem Wege Friederikes Geheimnis zu enthüllen, doch sie antwortet nur vage. Zudem erregt ein Licht im grauen Haus Theodors Mißtrauen. Aus einem Versteck heraus beobachtet er, wie Friederike sich mit einem Mann trifft. Wütend klopft Theodor Sabine heraus, erzählt seine Beobachtung und erklärt, er hasse und verachte Friederike. Da Rochus ihm berichtet, Brand habe Vertraulichkeiten mit Aurora, beschließt Blasius, dessen Pläne zu duchkreuzen und seine Diener zurückzubeordern. Im grauen Haus redet Friederike mit dem rätselhaften Mann, ihrem Vater, Herrn Eisenkorn. Er ist ungehalten über Theodors Absichten und entscheidet, daß Friederike noch am selben Tag abreisen soll. Seit ihre Mutter ein Jahr nach Friederikes Geburt starb, lebte Friederike in dieser abgelegenen Gegend, um fern des Stadtlebens erzogen zu werden. Nach den Plänen ihres Vaters sollte sie von hier aus heiraten. Für diese Hochzeit hat er seinen Neffen Blasius vorgesehen, den er in dürftigen Verhältnissen aufwachsen ließ. Zusammen sollen Friederike und Blasius ein ideales Paar sein. Friederike ist verzweifelt, zumal Sabine ihr von Theodors Worten berichtet. Im selben Moment versuchen die Knechte, Friederike zu entführen, doch sie werden von Blasius daran gehindert. Ohnmächtig liegt Friederike in Blasius’ Armen. Die eintretende Aurora und ihr Vater sind entsetzt. Doch die allgemeine Aufmerksamkeit richtet sich auf das durch die Gasbeleuchtung in Brand geratene Schloß. Herr von Klippenbach, Aurora und Mucki reisen sofort ab, wobei sie die Equipage als Ersatz für ihre verbrannte Garderobe mitnehmen. Der herbeigeeilte Eisenkorn hält Blasius, den er nicht als seinen Neffen erkennt, für den Retter seiner Tochter.

5. Akt
Blasius spielt einsam und verarmt auf seiner Geige. Babette hat es abgelehnt, ihm zu verzeihen, und so kann er vor lauter Unglück nicht arbeiten. Rochus hält ihn mit Lohnlakaiendiensten über Wasser. Theodor reist von einem Ort zum nächsten hinter Friederike her. Nun macht er sich Hoffnungen, seine Geliebte zu sehen, obwohl sie einem anderen versprochen ist, weil Friederike und ihr Vater noch am selben Tag in der Stadt erwartet werden. Theodor weiß mittlerweile, daß seine Eifersucht unbegründet war. Der Hausmeister bietet Blasius eine Gelegenheit, mit seinem Geigenspiel auf einem Ball Geld zu verdienen. Nur mühsam gelingt es Rochus, Blasius zu dieser Arbeit zu bewegen. Rochus selbst will sich dort als Lakai verdingen. – Lied Blasius V, 7 (R: „Drum sag ich ’s kommt Alls auf a Gwohnheit nur an.“). – Der Ball wird von Eisenkorn zur Verlobung seiner Tochter gegeben. Babette, die Kleider für Friederike bringt, erzählt Eisenkorn, was Blasius mit der Fabrik gemacht hat und wie er sich ihr gegenüber verhalten hat. Trotzdem will Eisenkorn es bei der Verlobung belassen, da die Gäste bereits eingeladen sind, doch er erlaubt Friederike, zwischen Blasius und Theodor zu wählen. Blasius hat unterdessen erfahren, daß Eisenkorn sein Onkel ist. Er beschließt deshalb, als Herr von Felsenstein, Friederikes Retter, aufzutreten und so eine große Summe Geld zu bekommen. Tatsächlich ist Eisenkorn gerührt, als er Blasius’ Geschichte hört, doch Babette erzählt Eisenkorn, daß dies sein liederlicher Neffe sei. Herr Eisenkorn verstößt Blasius aus der Familie und verspricht, den Lohn für die Rettung Babette zu geben, da sie am meisten gelitten habe. Allerdings erlaubt er Babette, Blasius zu heiraten, der verspricht, in Zukunft als Musiker sein Geld zu verdienen. 

Aus dem „Nestroy-Schauspielführer“ von Jürgen Hein und Claudia Meyer, Verlag Lehner

Original_Stückfassung | Historisch-kritische Ausgabe (HKA 14 Friedrich Walla)

33. Internationale Nestroy-Gespräche 2007
„… ’s kommt Alls auf a Gwohnheit nur an“
Raimund und Nestroy: Kanon, Kontext, Inszenierung

Samstag, 30. Juni 2007
Anreise 18:30 Schwechat, Justiz-Bildungszentrum, Schloßstraße (Tagungsbüro im Foyer ab 14.30 bis 18.30 Uhr geöffnet)
20:30 Schwechat, Schloss Rothmühle: Premiere 35. Nestroy-Spiele „Das Geheimnis des grauen Hauses“ (Regie: Peter Gruber)

Sonntag, 1. Juli 2007
9:00 Begrüßung
9:15 Beatrix Müller-Kampel (Graz, A): Kasperl – Seine Entkanonisierung und Rekanonisierung im Puppentheater des 19. Jahrhunderts
10:00 W. Edgar Yates (Exeter, GB): „Ich kann meinem Dasein keinen Geschmack abgewinnen“: Blasius Rohr auf Reisen
Diskussion und Pause
11:00 ‹Das Geheimnis des grauen Hauses›: Diskussion über Stück und Aufführung
Mittagspause
14:30 Martin Stern (Basel, CH): Entweder und Oder. Nestroy und die Problemgattung Tragikomödie
15:15 Matthias Mansky (Wien, A): Ferdinand Raimunds Schockdramaturgie
Diskussion und Pause
16:15 Elke Brüns (Berlin, D): Landschaften und Liebesräume, Zu Raimunds ‹Der Alpenkönig und der Menschenfeind›
17:00 Till Gerrit Waidelich (Wien, A): Das Wiener Volkstheater aus dem Blickwinkel des Verschwender-Komponisten Conradin Kreutzer
20:00 Lesung: Ulrike Längle, Einführung: Ulrike Tanzer (Salzburg, A)

Montag, 2. Juli 2007
9:30–12:30 Exkursion: Auf den Spuren von Grillparzer und seinen literarischen Zeitgenossen, Leitung: Walter Obermaier (Wien, A)
Mittagspause
Nachmittagsreferate in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Herrengasse 5, 1010 Wien:
15:00 Gunhild Oberzaucher-Schüller (Salzburg, A): Die Feenwelten der Therese Krones
15:45 Carola Hilmes (Frankfurt a.M., D): Karl Carls „bessere Hälfte“
Diskussion und Pause
16:45 Marion Linhardt (Bayreuth, D): Zur szenographischen Praxis in den europäischen Theaterzentren des frühen 19. Jahrhunderts. Die Wiener Vorstadttheater im Kontext

Dienstag, 3. Juli 2007
9:00 Herbert Herzmann (Dublin, IRL): Nestroy als kritischer Rationalist
9:45 Herwig Gottwald (Salzburg, A): Adalbert Stifter und das Theater 10:30 Johann Hüttner (Wien, A): Wortspiele für Insider: Raimunds und Nestroys lokale Anspielungen und ihre Umsetzungsschwierigkeiten in modernen Inszenierungen
Mittagspause
15:00 Forum: Funde – Fragen – Berichte: Gertrude Gerwig (Wien, A): Bewundert viel und viel gescholten. Glücklose Nestroy-Aufführungen in Berlin Jürgen Hein (Münster/W., D): Nestroy im Spielplan deutscher Stadttheater im 19. Jahrhundert
Diskussion und Pause
17:00 Schlußdiskussion

Mittwoch, 4. Juli 2007
Abreise

Frühere Verhältnisse

an folgenden Sonntagen im Juli: 8., 15., 22. und 29. Juli 2007, jeweils 10:30 Uhr

Szenische Lesung mit Michaela Mock und Christian Graf
Karten inkl. Frühstücksbuffet: € 10,–

Nestroy-Spiele 2007: Zum Jubiläum Das Geheimnis des grauen Hauses

Vor kurzem fragte mich ein Kollege, der an einem großen Festspielort enorm viel Geld verdient, mit der Arbeit dort aber offensichtlich nicht recht glücklich ist, in einer Mischung aus Herablassung und Neid: „Und du? Du machst das noch immer? Deinen Nestroy da draußen?!“ „Ja klar!“, sagte ich, ebenfalls nicht ganz glücklich und in einer ähnlichen Mischung aus Herablassung und Neid, „Da weiß ich wenigstens, warum ich zum Theater gegangen bin. Ich kann dort alles machen, was ich will, hab sehr gute Leute, und es redet mir keiner drein. Und von Nestroy kann man nie genug kriegen.“ Das war nicht gelogen – und trotzdem war’s nur ein Teil der Wahrheit. Ich hätte auch sagen können: seit 40 Jahren versuche ich, Johann Nestroy zu entkommen, und es gelingt mir einfach nicht. Begonnen hat es 1967, an Susi Nicolettis traditionellem Chanson- und Liederabend am Max Reinhardt-Seminar. Ich sollte ihn moderieren und am Schluss noch selber irgendetwas singen. Prof. Kurt Werner gab mir ein paar Notenblätter. Ich hatte keine Ahnung, was das war, was er mir da gab, aber es hörte sich ganz gut an. Und so legte ich hemmungs- und ahnungslos meine erste Talentprobe ab und sang höchst erfolgreich „Die Welt steht auf kein´ Fall mehr lang, lang, lang….“. Wenige Monate später gab´s die große Abschlussproduktion im Schönbrunner Schlosstheater. Gustav Manker inszenierte Träume von Schale und Kern, und ich durfte mitmachen. Ich hatte natürlich noch immer keine Ahnung von Nestroy (geschweige denn davon, was für einen Stellenwert er in meinem Leben noch einnehmen würde), aber er spielte sich einfach gut und war mir irgendwie vertraut, ebenso wie Mankers schlitzohriger Humor. „Peter Gruber ist als Sesseltrager Rot ein bisserl sehr grob und ordinär“, schrieb die damals gefürchtete Presse-Kritikerin Obszyna, „Aber seinen Namen wird man sich merken müssen.“ Den Nachsatz fand ich absolut richtig, die Bemerkung davor ziemlich ärgerlich. Ich entschied mich, sie für das verbale bourgeoise Naserümpfen einer älteren Dame zu halten, die vom wahren Leben in der Unterschicht keine Ahnung hatte. Sehr bald schon – in meinem ersten festen Engagement – kam es zu einer weiteren Begegnung. Nach meinem erfolgreichen Debüt als Romeo im Theater a.d.Wien wurde mir der Leim in Lumpacivagabundus angeboten. „Ich hoffe, Sie können auch komisch sein!“, meinte Intendant Peter Weihs, der mich als Rot nicht gesehen hatte und ausschließlich für einen romantischen Liebhaber hielt, besorgt. Regie führte Walter Kohut. Er war selbst ein legendärer Leim gewesen, was die Arbeit teils erleichterte, teils erschwerte, denn ich wollte ihn um keinen Preis kopieren. Meine Partner waren Fritz Holzer als Knieriem und Georg Trenkwitz als Zwirn, zwei g’standene Nestroy-Spieler also. Das war schon eine ziemliche Herausforderung, besonders mit Fritz, der sich auch privat manchmal ein bisschen zu sehr in seine Rolle einlebte. Aber ich war damals sehr selbstbewusst, lernte schnell und war am Ende höchst zufrieden, als es hieß: „Peter Gruber steht den beiden um nichts nach. Endlich wieder ein Leim, der nicht so brav und fad ist.“ Dann war fürs Erste einmal Schluss mit Nestroy. Ich wurde nach Deutschland engagiert und verbrachte die „wilden 60er“ bei den Ruhrfestspielen, am Düsseldorfer Schauspielhaus, in Oberhausen und Tübingen mit Euripides, Shakespeare, Brecht und einer Reihe angloamerikanischer Autoren, aber auch mit fragwürdigen Mitbestimmungsexperimenten und den obligaten Vorstellungsstörungen durch demonstrierende Studenten. Eine nestroylose Zeit – wenn ich davon absehe, dass ich über 70 Mal im Musical „Hello Dolly“ mit großem Vergnügen den Cornelius, die amerikanische Ausgab’ vom Weinberl, gespielt habe. 1972 kehrte ich dann über München nach Österreich zurück. Ich hatte Heimweh, wollte endlich auch Regie führen, und Peter Weihs bot mir als Wiedereinstieg eine Inszenierung an. „Was ist es denn?“, fragte ich ihn. Als er mir die Antwort gab, wusste ich, dass ich wirklich in Wien gelandet war. „Nestroy! Frühere Verhältnisse und Häuptling Abendwind.“ Da war er also wieder, mein Johann Nepomuk! Naja, warum nicht, dachte ich. Da kann ich auf dem aufbauen, was ich bei Manker und Kohut gelernt habe und als Regisseur endlich auch ungehindert ausloten, was ich damals vermisst hatte. Ich wollte mehr Schärfe, mehr Bezug zur Realität, mehr Assoziation zum Heute; wollte – ohne jedes Zeitgeist-Getue – so weit wie möglich wegkommen von den tradierten, gängigen Possenklischees. Meinen, wie ich finde, gar nicht so ungelungenen Versuch quittierte ein damals namhafter Kritiker mit dem vernichtenden Schlusssatz: „Bei diesem Regisseur wird sich Johann N. wohl im Grabe umdrehen!“ Nach so einer Hinrichtung war es nur ein schwacher Trost, dass das Publikum die Vorstellung sehr wohl goutierte. Ich war am Boden zerstört. Kurz darauf rief mich mein ehemaliger Lehrer und späterer Freund Bruno Dallansky an. Er erzählte mir, dass er zusammen mit dem Schriftsteller György Sebestyen und Burgtheater- Beleuchtungschef Sepp Nordegg einen wunderbaren Spielort, den eben renovierten Schlosshof Rothmühle, entdeckt habe und fragte mich, ob ich nicht probeweise mit den dort ansässigen Amateuren, die ein gewisser Walter Mock um sich versammelt hatte, ein Pilotprojekt betreuen wolle. Im nächsten Jahr werde man dann die ganze Sache mit Hilfe von Großsponsoren und prominenten Schauspielern so richtig angehen. „Was denn für eine Sache?“, fragte ich. „Nestroy! Nestroy in der Vorstadt, dort, wo er eigentlich hingehört.“ Nein, nicht schon wieder, dachte ich. Nestroy – noch dazu mit Laien! Andererseits: besser Nestroy als Wildgans, besser ein Provisorium als gar nix, und es ist ja ohnehin nur so nebenbei im Sommer. Hauptsache: ich kann mich ausprobieren und hab Spaß dabei! Ja – und wie das schon so ist mit Provisorien, ganz besonders in diesem Land: aus dem sommerlichen „Gspusi“ wurde eine „never ending lovestory“ und schließlich eine Art „wilder Ehe“, die heuer in ihr unglaubliches 35. Jahr geht. Schon nach der ersten Premiere war klar: es wird keine Großsponsoren geben und auch keine Stars. Wozu auch? Diese ungewöhnliche, semiprofessionelle Kombination war ein Volltreffer – ein Glücksfall, der von Publikum und Presse begeistert angenommen wurde. In Wien und Umgebung war ja damals kulturell im Sommer kaum was los, und wenn, waren es eher lauwarme Aufgüsse, mit denen sich urlaubende Schauspieler ein bisschen was dazuverdienten. Die Schwechater Amateure hingegen waren hochmotiviert, ernsthaft und lustvoll bei der Sache und gingen loyal und neugierig mit allem mit, was auch immer ich ihnen abverlangte. Mit ihrer uneitlen, unkonventionellen Art befreiten sie Nestroy vom verblasenen Würgegriff der Hochkultur und von verharmlosender Ästhetisierung und erfüllten so Dallanskys Wunsch, Nestroy in die Vorstadt zurückzuholen, nahezu ideal. Und sie wurden von Jahr zu Jahr besser und differenzierter. Also machte ich weiter – Jahr um Jahr. Bei meinen späteren Nestroy-Inszenierungen an großen Häusern (Der Talisman in Salzburg, Kaiserslautern und Graz, Freiheit in Krähwinkel am Volkstheater, Mein Freund im Theater in der Josefstadt und Frühere Verhältnisse in den Kammerspielen) war ich oft ziemlich perplex, wie leicht sehr gute professionelle Schauspieler auf ihrer Suche nach artifizieller, interessanter Eigenprofilierung den unmittelbaren Bezug zu Nestroys Volksfiguren und zu der Wirklichkeit, der sie entstammen, verlieren. Hier in Schwechat wussten und wissen die Spieler fast immer „ung´schauter“, wovon Nestroy erzählt. In der durch die jeweilige Konzeption vorgegebenen Form setzen sie es schnörkellos, erdig und vor allem immer gemeinsam, als Ensemble, um. Das wurde – zusammen mit der Art meines persönlichen Zugangs zu Nestroy – ein Markenzeichen der Nestroy-Spiele und hat mich immer wieder dazu motiviert weiterzumachen. Und so haben jetzt insgesamt 34 seiner über 80 Stücke hier im Schlosshof das Licht der Welt erblickt, in wechselseitiger Anregung thematisch begleitet von den interessanten Vorträgen der inzwischen zu Freunden gewordenen Nestroy-Wissenschafter bei den Internationalen Nestroy-Gesprächen. Besonderes Anliegen waren mir dabei die vielen unbekannten, oft unterschätzten „Ladenhüter“, die an anderen Theatern kaum eine Chance auf Verwirklichung haben. In der Rothmühle wurden sie erfolgreich zu neuem Leben erweckt und rehabilitiert. Stücke wie Die Papiere des Teufels, Robert der Teuxel, Wohnung zu vermieten, Adelheid, die verfolgte Witib, Abentheuer in der Sclaverey, Die Familie Maxenpfutsch oder Der confuse Zauberer haben nicht nur unterhalten, sie hatten – bei richtiger Lesart – unter der kulinarischen Oberfläche oft Wesentlicheres und Kritischeres zu sagen als so manches modische Stück von heute. Auch wenn ich oft Zweifel hatte: heute bin ich stolz darauf, wie wir unseren Weg gegangen sind; dass wir nie oberflächlich waren und uns – ohne jede Anbiederung – künstlerisch und wirtschaftlich behaupten konnten inmitten des immer härter werdenen Konkurrenzkampfes der Sommertheater. Wir mussten, konnten und wollten nicht mitmachen beim Wettlauf um prominente, seitenblicketaugliche Besetzungen, beim Sich-gegenseitigÜbertrumpfen durch die Anhäufung irgendwelcher Nebenveranstaltungen und bei der generellen Tendenz zur Gigantomanie sommertheaterlicher „events“. Und das war gut so. Schwechat ist ein kleiner, aber feiner Spielort geblieben, der als einer der ältesten einen fixen, anerkannten Platz im heterogenen Gefüge des Theaterfestes Niederösterreich einnimmt. Nach so vielen Jahren und mit einer solchen Bilanz kann man stolz, zufrieden und glücklich sein. Bin ich auch. Aber dass ich jetzt überall als „Nestroy-Experte“ gelte, ist nicht nur schmeichelhaft. Es ist auch schrecklich, weil man damit so eindimensional eingeordnet und festgelegt wird. Wenn ich an anderen Häusern (leider fast immer nur im Ausland) zur Abwechslung manchmal auch Shakespeare, Büchner, Horvath, Behan, Schwab oder einen anderen meiner Lieblingsautoren inszenieren darf, bin ich immer heilfroh. Das gibt mir wenigstens ein paar Wochen lang das Gefühl, ihn los zu sein – diesen übergroßen Schatten des Johann Nepomuk. Andererseits – er ist schon ein toller Autor. Das Geheimnis des grauen Hauses etwa hatte ich immer total unterschätzt, und jetzt erweist es sich in der Arbeit als höchst spannender, sehr eigenartiger expressionistischer Bilderbogen von zeitloser Gültigkeit, der durch die exakte Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Sehnsüchte von 1837 erstaunlich ins Heute verweist. Brillant! Und es gibt auch noch andere kaum beachtete Nestroy-Stücke, deren Wiederentdeckung oder Neuinterpretation vielleicht lohnt, und die sich hier im Schlosshof der Rothmühle wunderbar realisieren ließen wie z.B. – naja, ich will nichts verschreien. Ich fürchte, ich werde ihnen nicht entgehen, und ich hoffe, Sie auch nicht.
In diesem Sinne: viel Vergnügen! (Peter Gruber)