Peter Grubers Inszenierungen bieten stets Volkstheater im allerbesten Sinn, so auch in der diesmal gezeigten Posse, die in einer Lederfabrik am Rande der Großstadt spielt. Welche Koinzidenz, dass auch Schloss Rothmühle von 1920 bis 1935 als Lederfabrik diente! Dem selten aufgeführten Stück war bei der Uraufführung 1843 kein Erfolg beschieden. Das führt Gruber darauf zurück, dass das „Zustandsbild einer auseinanderdriftenden Ellbogengesellschaft“ für die Erwartungen eines am Unterhaltungstheater orientierten Publikums allzu realistisch ausfiel.
In Schwechat sorgt eine sehr vergnügliche, flotte und vom bewährten Ensemble (u.a. Christian Graf, Rainer Doppler, Franz Steiner, Erwin Leder, Michelle Haydn, Bella Rössler, Maria Sedlaczek und Eric Lingens) mit prächtigen Charakteren versehene Inszenierung für turbulenten – bisweilen auch galligen – Humor. Die Couplets enthalten wieder treffliche zeitkritische Zusatzstrophen aus Grubers Feder, einmal mehr trägt Otmar Binder dynamische pianistische Unterfütterung bei. Alles nach dem Motto „50 Jahre Nestroy – und glaub’n S’ wir geb’n a Ruah? Gar ka Spur!“
„Ohne Ansprachen“ seien die Nestroy-Spiele bisher ausgekommen, meinte Gruber nach der Vorstellung. Diesmal gab’s die Ausnahme von der Regel. So verlieh Landtagspräsident Karl Wilfing (ÖVP) seiner Hoffnung Ausdruck, die Nestroy-Spiele mögen auch weiterhin für einen „aufmüpfigen, politischen und nicht biedermeierlichen“ Aufführungsstil stehen. Gruber: „Das hoffe ich auch!“
Christian Graf will gemeinsam mit Florian Haslinger, „die Tradition aufrecht erhalten, sowohl Nestroy-Klassiker als auch unbekannte, selten gespielte Stücke in gewohnter Manier, mit Biss und Humor, aber immer auch mit Bezug zu heute zum Leben zu erwecken.“
Kurier, 03. Juli 2022
In das Abgründige menschlicher Seelen blicken
50 Jahre Nestroy in Schwechat: Peter Gruber verabschiedet sich als Regisseur und Intendant in der 50. Saison von den Nestroy-Spielen in Schwechat mit seiner famosen Inszenierung von „Nur Ruhe!“
Nestroy spielen, das heißt, ohne Wenn und Aber in das Abgründige menschlicher Seelen blicken. Das demonstriert seit 50 Jahren der Schauspieler, Regisseur und Intendant der Nestroy-Spiele Schwechat, Peter Gruber. Nach diesem Sommer übergibt er sein Amt an Christian Graf, seit 22 Jahren Teil des Nestroy-Ensembles in der ehemaligen Lederfabrik Schloss Rothmühle. Das Archiv betreut Gruber jedoch weiter. Zuvor zeigt er das selten gespielte Stück „Nur Ruhe“!“. Treffender hätte er sein Abschiedsstück nicht wählen können. Ein Lederfabrikant will sich in den Ruhestand zurückziehen und seine Fabrik abgeben. Ungebetene Gäste aber stören den Vorgang. Gruber, wahrer Könner und Kenner der Materie, verwebt subtil aktuelle Bezüge in Nestroys Text. Lohn-Dumping, Pandemie, Querdenker, Wurmdoktor, ein fragwürdiges Gericht und sogar Metoo, nichts bleibt unerwähnt und das nicht nur in den Couplets (Musik: Otmar Binder).
Das Geschehen entwickelt in den etwas mehr als zweieinhalb kurzweiligen Stunden enorme Sogwirkung. Gruber führt sein Ensemble auf Andrea Költringers praktikabler Bühne, einem einstöckigen Haus, Teich inklusive, präzise und konzentriert seine Inszenierung auf den Text. Damit macht er Nestroys alle Schichten umfassende Gesellschaftskritik sichtbar und führt vor, wie gut sich diese auf heutige Verhältnisse umlegen lässt. Gespielt wird sehr gut. Rainer Doppler steht als sympathischer, sich nach Ruhestand sehnender Fabrikant Anton Schafgeist im Zentrum. Christian Graf zeigt die Facetten des aufstrebenden Gesellen Rochus Dickfell. Marc Illich agiert virtuos als überkorrekter Werkführer Walkauer, Rosa Wimmer macht aus der Nebenrolle Peppi eine echte Kunstfigur, um nur einige wenige aus dem famosen Ensemble zu nennen. Viel Applaus für alle Mitwirkenden und stehende Ovationen für den scheidenden Intendanten Peter Gruber.
Der Standard, 03. Juli 2022
Wehmut über den desolaten Zustand der Welt
Nach 50 Jahren gibt Intendant und Regisseur Peter Gruber die Nestroy-Spiele-Schwechat ab. Seine Abschiedsinszenierung ist eine zutiefst fatalistische: Nestroys Nur Ruhe!, zur Entstehungszeit kurz vor der 1848er-Revolution höchst unbeliebt beim Publikum und nach wie vor kaum gespielt, zeigt die Menschheit nicht eben von ihrer besten Seite. Berechnende, kaum je über den eigenen Tellerrand, geschweige denn die eigene Lebenszeit hinausblickende Figuren taumeln hier durch eine aufgekratzte Handlung. Der Besitzer einer Lederfabrik am Rande der Stadt (so wie einst die Rothmühle in Schwechat, Spielort der Nestroy-Spiele) will an seinem 55. Geburtstag an Neffe Heinrich übergeben und endlich seine Ruhe. Natürlich tritt das Gegenteil ein, sonst ließen sich zweieinhalb Stunden (inklusive Pause) kaum füllen. Allerhand überzeichnete Gestalten aus allen sozialen Schichten kreuzen auf und es gibt Zores.
Eskalationsstufen
Die eher unterschwellige vormärzliche Gereiztheit konkretisiert und überhöht Gruber mit wenigen aber deutlichen Aktualisierungen, vor allem in den Couplets: Nicht nur Klassen- und Geschlechterkonflikte bedrohen die Ruhe, sondern auch Pandemie, das „Damoklesschwert“ Weltkrieg, Inflation und Klimakatastrophe. Wen wundert, dass der souveräne Rainer Doppler als Lederfabrikant Schafgeist keine ruhige Minute mehr hat. Dabei muss er sich ohnehin um heimlich Verliebte, despotische Väter, übersteuerte Verkuppelungs-Intrigen (bei denen ein Exhibitionist mit pinker Zorro-Maske beteiligt ist), vermeintliche Mordanschläge und untergeschobene Kinder kümmern.
Das Ensemble arbeitet sich auf der klassisch in zwei Ebenen aufgeteilten Bühne (auch Kostüme: Andrea Költringer) mit Schmackes durch die quasi minütlich ansteigenden Eskalationsstufen: Marc Illich als Werksführer am Rande des Nervenzusammenbruchs, Eric Lingens als völlig unfähiger aber selbstverliebter Firmenerbe, der versoffen-verschlagene Lederergesell Rochus Dickfell (Christian Graf) und seine Ziehtochter Leocadia (als Tussi im Leoparden-Outfit: Michelle Haydn). Dann taucht noch die neureiche Familie eines gewissen Herrn von Hornissl (jovial, aber die Krawatte in den Farben der 48er-Revolution fast auf Trump-Länge: Michael Scheidl) mit Neffe (Beruf Sohn, Wortschatz „Oida!“: Florian Haslinger) auf, und das Chaos ist komplett.
Eindimensional, doch überzeugend
Die Figuren bleiben eindimensional, aber das Ensemble überzeugt. Und Gruber inszeniert mit Liebe zum Detail: Die Mauerschau (griech. teichoskopie), in der vom Autounfall der Hornissls berichtet wird, findet tatsächlich an einem Teich (in Wahrheit ein Planschbecken) statt, die proletige Leocadia kratzt sich permanent im Schritt. Dass der latente Sexismus fokussiert ausgespielt wird, sorgt für große Lacher. So erklärt Hornissl-Tochter Peppi (Rosa Wimmer) mit Dauer-Schmollmund: „Ich habe keinen Willen“. Mit geschminkten Veilchen wird häusliche Gewalt angedeutet.
Wirklich gesellschaftskritischer Biss fehlt dem Abend ein wenig, eher überwiegt die Wehmut über den desolaten Zustand der Welt (die dem Stück ein wenig aufgepfropft wirkt). Aber, wie Fabrikant Schafgeist anmerkt: Er mit seinen 55 wird es ja nicht mehr erleben müssen. (Andrea Heinz)
Deutschlandfunk, 02. Juli 2022
Aufmüpfigkeit trifft Melancholie
In Österreich lieben sie ihren Johann Nepomuk Nestroy. Sein Wortwitz und Charme machen den Biedermeier-Possendichter auch heute noch zu einer Art Nationalheiligen. Bei den Nestroyspielen Schwechat wird er seit 50 Jahren gefeiert.
In Schwechat, südlich von Wien, gibt es nicht nur Österreichs größten Flughafen, sondern auch den besten Nestroy, dieses Jahr bereits zum 50. Mal. Von Anfang an hat Peter Gruber Regie geführt, seit 1986 leitet Christine Bauer mit ihm zusammen die Nestroyspiele Schwechat.
„Zu ebener Erde und erster Stock“: In Johann Nestroys „Posse mit Gesang“ aus 1835 singt der zynische Sekretär Johann ein Couplet – ein satirisches Lied, mit dessen tagesaktuellen Zusatzstrophen der Wiener Volksstückdichter regelmäßig die strenge Zensur im biedermeierlichen Polizeistaat umgehen konnte. Als in Österreich 2018 Sebastian Kurz mit der FPÖ zusammen regierte, klang das in Schwechat auf der Bühne so: „Doch er hat wie versprochen Verändrung gebracht. / Denn die Z’Kurz-Kommenen, die sein jetzt an der Macht. / Alle Routen sein g’schlossen, überall Polizei, / rund um d’Uhr wer’n ma abg’hört, kurzum: Wir sind frei. / Ich mein: freiheitlich g’sinnt, teils blau, teils türkis. / Is eh wurscht, weil da kaum noch a Unterschied is.“
Ein Gemeinderat der FPÖ stürmte erbost aus der Generalprobe, aktivierte die Medien und versuchte, den Macher:innen den Geldhahn abzudrehen. Der Antrag scheiterte, dafür hatten die Nestroyspiele Schwechat in diesem Jahr so viel Publikum wie noch nie.
„Der Innenphilister sitzt am hohen Ross, / umringt von ein’m grölenden Burschenschaftstross. / ,Österreich sind nur die, die so denken wie wir. / Alle andern g’hörn raus. Abdullah – drei Bier!‘“
Nestroy ist noch immer aktuell
Mit einem 200 Jahre alten Possendichter der Politik eins auswischen, das gelingt nur den Nestroyspielen Schwechat. Südlich von Wien 1973 ins Leben gerufen, zeigen sie jeden Sommer die Aktualität eines der zahlreichen Nestroy-Stücke.
Abseits von Schwechat werden die bekanntesten Nestroys von – „Der Talisman“ über „Lumpazivagabundus“ bis hin zu „Einen Jux will er sich machen“ – zwar gern gesehen und gespielt, auch von Laien, dabei aber oft mit Herablassung als niedliche Schunkelunterhaltung im Dialekt abgetan.
Regisseur und Intendant Peter Gruber probt gerade seine 50. Nestroyspiele und sagt: „Es verselbstständigt sich da so etwas, was man Nestroy-Stil nennt. Das ist entweder so aggressiv und ganz bedeutsam oder so auf lustig oder so.“
Peter Gruber: „Ja, ich hab immer was anderes gesucht. Also Dinge, die in der sozialen Realität wurzeln, nicht eine Posse, die abgehoben ist, weg, weit weg von den Dingen, sondern mehr Realsatire, wo sich die Leute unfreiwillig lächerlich machen.“
Dieses Jahr zeigt Gruber erstmals das eher unbekannte Stück „Nur Ruhe“. Der Titel ist vielsagend, denn: Gruber geht. Er ist 75 und gibt das Zepter einem jüngeren Kollegen. Die Geschäftsführerin und Organisationsleiterin Christine Bauer macht noch einige Jahre weiter. Was hat es also nun auf sich mit dem Alt-Wiener Phänomen Johann Nepomuk Nestroy? „Jeder, der irgendwie damit zu tun hat, sollte Nestroy wirklich genau lesen und wirklich seine Vorurteile hinterfragen“, sagt Christine Bauer. „Dann sollte es funktionieren.“
Und Peter Gruber ergänzt: „Beim Shakespeare macht man es ja auch nicht so, dass man einfach sagt, ja, das ist ein Engländer um 16… 17… irgendwann in der Zeit ist der halt, das kann man halt nicht mehr spielen, das ist ein Witz. Das ist total modern, künstlerisch wertvoll von der Sprache. Das ist beim Nestroy auch so, das müsste man eigentlich erkennen.“
In der DDR zündete der Nestroy-Witz
In Wien benennen sie ihren wichtigsten Theaterpreis nach ihm – den haben die Nestroyspiele natürlich auch schon mal gewonnen. Aber je weiter man nach Norden kommt, desto größer wird das Stirnrunzeln. Wer also, wenn nicht Peter Gruber, kann den Deutschen Nestroy erklären?
„Man muss den Deutschen Nestroy nicht erklären, man muss ihn spielen und sie verstehen ihn, glaube ich, grundsätzlich“, sagt Gruber. „Wir sind nach Berlin gefahren, haben ein Gastspiel gemacht mit einer Nestroy-Produktion vom ,Schützling‘, in die DDR damals noch. Und grade die haben, weil sie das gewohnt waren, doppelt zu hören, also weil sie den Untertext zu hören gewohnt waren – die haben blitzschnell reagiert.“ Am Publikum liegt es also nicht …
„Diese Art von Witz, von Doppelbödigkeit, von Mehrfachbödigkeit, nicht nur Doppelbödigkeit, die ist in Deutschland nicht so häufig wie bei uns“, sagt Peter Gruber. „Das hat bei uns jeder Bauarbeiter. Das ist einfach ein … das ist die Art des Witzes …“ „Und auch die Schauspieler haben’s nicht so … drauf“, ergänzt Christine Bauer.
Unter Witz und Bösartigem versteckt sich Sehnsucht
Nun ja. Der Mix aus Profis und lokalen Laien im Ensemble und die Lage in der Vorstadt geben den Nestroyspielen jedenfalls eine einzigartige Freiheit in einer Gesellschaft, die sich ihre Zensur heute teilweise selbst verordnet. Aufmüpfigkeit trifft Melancholie.
Peter Gruber: „Es liegt unter all dem Witz und all diesem Bösartigen eine ungeheure Trauer und eine ungeheure Sehnsucht“, findet Peter Gruber.
Den finalen Ausschlag gibt dann aber doch: der Spaß. So geht ein Couplettext: „Das Nestroy-Spielen, ich will nicht lügen, / selbst ohne Gage macht’s mir Vergnügen. / Na ja, ein bissl was könnt man schon kriegen. / Dann machat’s uns noch mehr Vergnügen.“ Applaus. (Martin Thomas Pesl)
Kronenzeitung, 12. Juli 2022
Schnösel und Lebeenschen
50 Jahre alt sind die Nestroy-Spiele in Schwechat – gegründet, gepflegt und großgeworden dank Theatermacher Peter Gruber. Mit „Nur Ruhe!“ hat er nun seine letzte Inszenierung für diese – man kann es so nennen – Institution geschaffen. Unterhaltsam, bunt und auf den Punkt gebracht. Fürs Publikum eine Hetz!
Die Nestroy-Spiele sind ein Festival zwischen Theaterbühne und Sommerfest, leicht, doch nicht oberflächlich, konsequent, frei von Flitter. Sie zeigen heuer die Geschichte eines 55jährigen Fabrikanten, der von der Pension träumt und seinen Betrieb an den Neffen übergeben will. Doch daraus wird nichts: Pannen, Komplikationen, Verwicklungen, überall Ungemach. Bis sich vor Gericht alles aufklärt. Es ist keines der großen bekannten Nestroy-Stücke, aber eines, das seinen zeitlosen Reiz hat.
Das Schwechater Nestroy-Team zeigt mit „Nur Ruhe!“ einen runden Abend, der ohne Stocken läuft. Typentheater, das kräftige Bilder liefert: Hier Schnösel, dort Lebemensch, hier Intrige, dort Schwindel. Von Peter Gruber markant gesetzt, ohne zu stark zu überzeichnen. Und man spricht vieles an – etwa wirtschaftliche Ausbeutung und häusliche Gewalt. Zeitbezüge wie Pandemie, Maskenverweigerer, Klimakatastrophe kommen vor. Mitunter klingt ein Hauch von Melancholie mit, bevor die Verwicklungen wieder einen Gang nach oben schalten.
Gruber serviert im gelungenen Zwei-Ebenen-Bühnenbild (Andrea Költringer) ein Nestroy-Fest, das auf ein hervorragendes Ensemble zählen kann: Christian Graf, Michelle Haydn, Bella Rössler, Rainer Doppler u. a. – sie alle spielen präzise und bringen Nestroy auf den Punkt! (AN)
Wiener Zeitung, 12. Juli 2022
Ein Nestroy für den Ruhestand
„Nur Ruhe!“ Das wünschen sich heute viele angesichts der täglichen Horrormeldungen aus aller Welt. Das wünscht sich auch der Lederfabrikant Anton Schafgeist, der an seinem 55. Geburtstag seine Firma seinem Neffen übergeben will, in Johann Nestroys gleichnamiger Posse, die heuer bei den Nestroyspielen im Schwechater Schloss Rothmühle – von 1920 bis 1935 selbst eine Lederfabrik – gespielt wird. Bis er diese Ruhe findet, muss er freilich eine Fülle unvorhersehbarer Turbulenzen überstehen.
Das 1843 uraufgeführte Stück, sofort heftig abgelehnt, erlebte damals nur vier Vorstellungen. Seine Schwächen kann auch die wie immer einfallsreiche Inszenierung von Peter Gruber in einer famosen Ausstattung von Andrea Költringer (Bühne und Kostüme) nicht überdecken. Die Handlung wirkt extrem konstruiert, die Personen erwecken in ihrer Egozentrik und Geldgier wenig Sympathien, ob viele Zuschauer – wie es Nestroys Intention gewesen sein mag – sich in ihnen erkennen, ist fraglich.
Die Akteure, allen voran Rainer Doppler als Schafgeist und Christian Graf in der Nestroy-Rolle des Gesellen Rochus Dickfell, machen ihre Sache durchwegs recht gut, aber sie stellen mit wenigen Ausnahmen eher Karikaturen von Menschen als lebensechte Personen auf die Bühne. Man hätte Peter Gruber, der in nunmehr 50 Jahren unendlich viel in Schwechat geleistet – und wieder einige treffliche Couplet-Zusatzstrophen beigesteuert – hat, einen Abschied mit einem besseren Nestroy-Stück gewünscht. Für „Nur Ruhe!“ möge in Zukunft „Ruhe sanft!“ gelten. (Heiner Boberski)
Online Merker, 12. Juli 2022
Im übrigen ein goldrichtiger Nestroy
50 Jahre – ein halbes Jahrhundert! – sind im allgemeinen immer noch der größte Teil eines Menschenlebens, und es sind Jahrzehnte, in denen sich unendlich vieles grundlegend verändert. Dass man dennoch ein halbes Jahrhundert kontinuierlich Theaterarbeit im Dienste eines Dramatikers leisten kann, schiene unmöglich, wenn das nicht in Schwechat vorgelebt worden wäre. Zum 50. Mal finden heuer die Nestroy-Spiele statt, und von Tag 1 bis nun, seinem freiwilligen Rückzug, hat Peter Gruber das Unternehmen bestimmt, vom künstlerischen Konzept bis ins kleinste Detail der Regiearbeit. Im Buch der Rekorde, das diese Leitung verzeichnen muss, wird sich wenig Ähnliches finden.
Gruber und, seit Jahrzehnten, seine unverzichtbare Mitarbeiterin in der Organisation, Christl Bauer, konnten natürlich aus dem Vollen schöpfen, zumindest was die Vorlagen betraf: Wenn Johann Nestroy auch – viel gespielt nicht nur in Österreich – meist nur mit einem halben Dutzend seiner Stücke in den Spielplänen erscheint, so hat er doch über 70 geschrieben, bessere und schwächere, geniale und routinierte, stets von seinem Theaterverstand und seinem geniale, kritischen Geist gespeist.
Wenn man nun für das Finale der Ära Peter Gruber „Nur Ruhe!“ gewählt hat, findet man dafür wohl zwei Gründe. Erstens kann man dabei dem Genius Loci huldigen, nämlich dem Spielort, der Rothmühle in Rannersdorf , einem Gebäude mit wechselhaftem Schicksal, Barockschloßanlage, aber einst auch Mühle, auch einmal im Besitz der Gattin des berühmten Franz Anton Mesmer (Mozart war 1773 hier zu Gast), und, wie man erfährt, von 1920 bis 1935 eine Lederfabrik am Rand der Großstadt. Und der Herr von Schafgeist, der „Nur Ruhe!“ haben will, aber natürlich nicht findet, ist auch als Lederfabrikant reich geworden…
Ja, und „Nur Ruhe!“ mag sich auch darauf beziehen, dass Peter Gruber sich dergleichen nach einem mehr als arbeitsreichen Leben für seine Zukunft ersehnt – aber wird ihm das recht sein? „Gar ka Spur“, heißt es in einem Couplet des Stücks, das Gruber, wie immer, mit aktuellen Strophen bestückt und damit auch ein kleines bisschen auf sich selbst Bezug genommen hat, während die „zeitgenössischen Betrachtungen“ (die Nestroy auch immer angestellt hat) aus gegebenen Gründen heuer besonders düster ausfallen.
Im übrigen rangiert „Nur Ruhe!“, 1843 uraufgeführt, eines der wenigen Nestroy-Stücke, von dem man die Vorlage nicht kennt, im Mittelfeld seines Werks. Glänzend sind darin, wie immer bei ihm, die Charaktere gezeichnet, wobei man nicht eine einzige wirklich positive Figur finden wird (!), aber die galligen Erkenntnisse, die sich daran knüpfen, geben in der Handlung nicht viel mehr her als ein paar Intrigen, wobei – ein Grundthema bei Nestroy – alle (Frauen wie Männer) am liebsten reich heiraten wollen.
Peter Gruber hat Nestroys Stücke immer (und völlig legitim) auch optisch in unsere Zeit geholt und schärfend heraus gearbeitet, was uns an seinen Figuren und Konstellationen interessieren muss, wobei seine Bearbeitungen sprachlich und inhaltlich stets im Bereich des von Nestroy Vorgegebenem bleiben. Wenn er hier a priori eine Ausbeutergesellschaft darstellt, so merkt man das nicht zuletzt daran, wie die Arbeiter in der Lederfabrik allmorgendlich zum Mindestlohn rekrutiert werden. Und wenn sich die reichen Herrschaften (auch in der Bühnenkonstruktion in „wir da oben, ihr da unten“ geteilt) da tummeln, so sind die Arbeiter doch permanent da, auch wenn sie nur Lederstücke hin- und hertragen…
Der Herr Schafgeist, der Kapitalist, der ohne eigene Arbeit reich geworden ist (ein Werkführer zerfranst sich für ihn), will nun sein Leben, das ihn offenbar nie gefordert hat, durch wie ihm scheint wohl verdienten Ruhestand krönen – soll sein Neffe, der eine reiche Alte heiraten will, deren Geld der Firma gut tun wird, sich plagen. Dass dieser junge Mann gar nicht daran denkt, jemals für die Firma zu arbeiten (offenbar weiß er gar nicht, wie das geht), stellt sich so schnell heraus wie die natürliche Lustspielsituation, dass dem Mann, der Ruhe will, alle nur denkbaren unerwünschten Turbulenzen ins Haus stehen…
Schafgeist war nicht die Nestroy-Rolle, sondern die seines von der Optik her „gemütlichen“ Partners Wenzel Scholz. Nestroy hat sich selbst mit dem Rochus Dickfell eine seiner brillant unsympathischen Figuren auf den Leib geschrieben, wo das Wiener Wesen des Intrigieren und Schleimen, des Lügen und Betrügen fröhliche, geradezu genüssliche Urstände feiert. Eine Ziehtochter von Dickfell, die genau so ein Früchtchen ist wie der Ziehpapa, soll an denjenigen Mann verkippelt werden, der die reichste Partie zu sein verspricht. Die bei Schafgeist wie Hornissen einfallende, arrogante, unverschämte Familie, die treffenderweise „Hornissl“ heißt, liefert dann das immer so sinnlose Handlungselement von der vertauschten Tochter, und was sich am Ende an Eheschließungen ergibt, ist keinesfalls beglückend.
So ein Stück ist nur von den Figuren her zu packen, und Peter Gruber hat das in der Ausstattung von Andrea Költringer (hölzernes Bühnengerüst, freche Kostüme) einmal auf den nötigen idealen Nestroy-Stil getrimmt – klare Sprache, präzise Pointen, fugenlos-geschmeidiger Ablauf. Und natürlich Darsteller von dem nötigen Format (wenn man bedenkt, dass dieses Unternehmen einst als „Laientheater“ begann! Aber in einem halben Jahrhundert kann man es schon zu Theater in Perfektion bringen …).
Alles dreht sich um Rochus Dickfell, und dass diese Rolle in diesem Schwechater Sommer von Christian Graf verkörpert wird, ist besonders wichtig. Erstens hat Graf hier einmal angefangen und dann eine bemerkenswerte Karriere an der Volksoper gemacht, wo er neben Robert Meyer zum zweitbeliebtesten Komiker aufstieg, mit jener Präzision und Pointensicherheit, die er bei Gruber gelernt hat. Und zweitens hat er das Unternehmen Nestroy-Spiel Schwechat von Peter Gruber übernommen und wird es ab nächstem Sommer fortführen (Eröffnungspremiere, wie man zugeflüstert bekam: „Eisenbahnheiraten“, eine starke Typenkomödie). Hier beweist Graf nun, nach langen Musical-Jahren an der Volksoper, welch glänzender Nestroy-Spieler er ist, wobei er jede Versuchung, die Rolle zu „schmieren“ (das kann man, prominente Kollegen haben es erfolgreich getan), verschmäht. Das ist der ganz normale miese Mann von der Straße, wie man ihn kennt, ohne dass er sich besonders „aufpudelt“, wie man in Wien sagt. Gewiß, es ginge auch dämonischer, aber es muss nicht sein. Auf solche Vordergründigkeit ist die Inszenierung nicht angelegt.
Es fällt auf, dass Gruber die Frauenfiguren so hart und schrill anpackt, wie Nestroy sie gemeint hat (von wegen: Er hat keine guten Frauenrollen geschrieben!) – sie alle genieren sich nicht, mit ihren Tricks und Drehs die Männerwelt auszuhebeln. Die Ziehtochter von Dickfell, die kein Theater scheut, um auf sich aufmerksam zu machen (Michelle Haydn), die Hornissl-Tochter, die spürbar macht, dass der scheinbare Gehorsam schlechtweg ein Trick ist (Rosa Wimmer), eine reiche Alte, die sich in bemerkenswerter, souveräner Gelassenheit nicht das Butter vom Brot nehmen lässt (Bella Rössler), eine kreischende, Aufmerksamkeit heischende Ehefrau (Ines Cihal) – sie alle exakt zwischen Klischee und dessen Durchleuchtung angesiedelt.
Mit Herrn von Schafgeist, den Rainer Doppler halb und halb gelegentlich sympathisch werden lässt, kann man Mitleid bekommen, wenn man sieht, was da so über ihn hereinbricht: Herr Hornissl, von Michael Scheidl fraglos als Nadelstreifen-Krimineller gespielt, dessen Neffe (köstllich: Florian Haslinger) die ganze Unverschämtheit des „spoiled brat“ auspackt. Aber auch um seinen eigenen Neffen (schön differenziert: Eric Lingens) muss man Schafgeist nicht beneiden, denn für ihn bedeutet die Fabrik, die man ihm übergibt, nicht Arbeit und Verantwortung, sondern einzig und allein das Machtspiel, sich über andere zu erheben. Etwa über den übereifrigen Werkführer (glänzend steif: Marc Illich), der zwischen Pflichtbewusstsein und Angeberei schwankt.
Unter der Masse der Darsteller seien noch ein „Syndicus“ (würdig in einer Nebenrolle: Franz Steiner), ein Altgesell (eine runde Figur: Robert Herret) und ein übereifriger Schreiber mit dem sprechenden Namen Klecks (immer köstlich: Erwin Leder) hervorgehoben. Die Musik spielt diesmal eine geringere Rolle, fügt sich aber mit Othmar Binder (geduckt am Keyboard) stimmungsvoll ins Geschehen.
Es war ein inhaltlich vielleicht schwacher, aber im übrigen ein goldrichtiger Nestroy. Wie man es von Schwechat gewöhnt ist. Man wird in der Rothmühle am 6. August die Ära Peter Gruber mit einem Fest würdig feiern und beenden. (Renate Wagner)
Die Presse,
Das hat ein Nestroy geschrieben, das hört man
Abschied. 50 Jahre hat Peter Gruber die Nestroyspiele in Schwechat geleitet. Nun verabschiedet er sich nach einer letzten, gelungenen Inszenierung. „Nur Ruhe!“, eine Posse, die in einer Lederfabrik spielt.
Raimundspiele haben ein inhärentes Problem: Ferdinand Raimund hat nicht allzu viele Stücke hinterlassen, die heute noch originalgetreu spielbar sind. „Die gefesselte Fantasie“ etwa, die heuer in Gutenstein gegeben wird, wirkt stellenweise unfreiwillig komisch. Was die originelle Inszenierung Achim Freyers teilweise übertüncht.
Da sind die Nestrospiele in Schwechat besser dran: Auch unbeikannte Stücke von Johann Nepomuk Nestroy funktionieren selbst ohne Aktualisierung oder Regie-Umdeutung. Sogar eines, das einst, 1843, nach nur vier Vorstellungen abgesetzt werden musste. An „Nur Ruhe!“ wurde unter anderem die unlustige Grundstimmung bemängelt, heißt es.Das kann der Besucher im barocken, aber für biedermeierliche Szenarien bestens passenden Schloss Rothmühle nicht nach vollziehen: Es war nicht nur eine Freud’, sondern auch eine Hetz.
Mit nachdenklichen, sozialkritischen Aspekten freilich, wie von Nestroy gewohnt. Das Stück spielt ja in einer Lederfabrik – eine solche war irklich einmal in der Rothmühle –, und dort herrscht nur biedermeierliche Ordnung, sondern auch schiere Ausbeutung. Um diese zu zeichnen, setzt Regisseur Peter Gruber an den Anfang beider Spielhälften eine Szene des Lohndumpings. Ist nicht nicht Nestroy, könnte es aber sein. Sehr wohl von Nestroy sind schöne Wörter wie dischkriern (diskutieren), urassig (verschwendend, verwöhnt), stantapede ( von stante pede, sofort), gamezzen (gähnen) oder ausnapfezen (ausschlafen). Wenn man sie nicht kennt, errät man sie aus dem Zusammenhang: Es zählt zu den Stärken der Gruber’schen Inszenierungen, dass er das Altwienerisch stehen lässt und nur behutsam durch neuere Wörter wie Sex Machine, Inflation oder Paparazzi ergänzt. Dass der eitle Neffe Hans Laffberger ein ums andere Mal „Oida!“ ruft, müsste nicht sein, gefällt aber dem Publikum.
Was macht den Menschen? Das Wadel!
Wie die Kuhe, die durch die Szenerie rast, die zwei- bis einduetige Gestik der heiratslustigen Leocadia (ein bisserl sehr überdreht: Michelle Haydn) und der subtil durch dein Planschbecken und das Schild „Betreten der Teichanlage verboten“ angedeutete Teich. Der eine wichtige Rolle in der Handlung spielt, deren Gewirk von Liebesg’schichten und Heiratssachen, wie manchmal in Nestroys Possen, stellenweise gar konstruiert anmutet. Aber das verträgt man, aufgemunter durch Passagen wie der Erklärung der Zeit als Werkstatt der der Ewigkeit oder des Wadels als typisch für den Menschen, Könnte ein Abfallprodukt der „Schlimmen Buben in der Schule“ sein, aber was macht das schon?
Der wortgewaltige Lederergeselle, der solche Sentenzen spricht, trägt den Namen Rochus Dickfell und, wie er mehrmals sagt, sein Herz auf der Zunge. Christian Graf legt diesen Aufsässigen, der im richtigen Moment auch systemtreu sein kann, nicht allzu nett an, und das ist gut so, denn ihm gehören ohnehin die Herzen. Dafür spielt Rainer Doppler die andere Hauptperson, den ruhebedürftigen Fabrikanten Anton Schafgeist, mit so feiner Nervosität, dass man sich fast dabei ertappt, trotz aller Sympathie fürs Proletariat zu ihm zu helfen.
Beide könnte man sich auch unterm Jahre und auf Wiener Bühnen sehr gut als Nestroy-Darsteller vorstellen, aber dort will ja derzeit kein Direktor, schon gar nicht des traditionell dafür zuständigen Volkstheaters, Nestroy spielen. Umso mehr brauchen wir die Nestroyspiele in Schwechat, hart an der Stadtgrenze Wiens. Ihr Intendant Peter Gruber darf nach unglaublichen 50 Jahren endlich in den Hafen der Ruhe einlaufen, um es mit Nestroys Stück zu sagen. Es übernimmt aber nicht sein Neffe, sondern Christian Graf. Man wünscht ihm, was er als Rochus dem Schafsgeist wünscht: viele Jahre in Gesundheut, Glück und Heiterkeit. (Thomas Kramar)