Der Mann an der Spitze

39. NESTROY Spiele Schwechat
25. Juni bis 30. Juli 2011

Durch einen absurden Zufall erhält ein in seinem erlernten Beruf als Schneider bisher eher erfolgloser Möchtegernpolitiker die Chance, für eine höchst einflussreiche, prominente englische Lady ein Ballkostüm zu kreieren. Sein geschmackloser Entwurf löst in der Wiener Gesellschaft wider Erwarten Begeisterungsstürme aus, und so wird der als größenwahnsinnig belächelte Spinner plötzlich zum „shooting star“. Am scheinbaren Höhepunkt seines gesellschaftlichen Aufstiegs und seiner Machtphantasien gerät er jedoch in einen Strudel dunkler politischer Intrigen und privat in eine Situation, die ihn mit seinen Ängsten und dunklen Seiten konfrontiert.

Mit beißendem Witz, analytischer Schärfe und geradezu visionär zeigt Nestroy in seiner nachrevolutionären Posse „Der Mann an der Spitze“ den Prototyp eines heute in allen Demokratien grassierenden Politikers: einen halbgebildeten, eloquenten und demagogisch versierten Opportunisten, der als selbsternannter Vertreter des „kleinen Mannes“ um jeden Preis an die Macht will.

„Der Mann an der Spitze“ – ein zu Unrecht vergessenes brillantes und höchst amüsantes Meisterwerk von erstaunlicher Zeitlosigkeit, gespielt von den Schwechater Nestroy-Spezialisten rund um Peter Gruber.

Regie

Peter Gruber

Regiemitarbeit

Christine Bauer

Dramaturgieassistenz

Anna Steger

Couplet-Komposition

Otmar Binder

Bühne

Alexandre Collon

Ausstattungsassistenz

Milena Nikolic

Bühnenrealisation

Günter Lickel

Kostüme

Okki Zykan

Maske

Sigrid Lessel

Maskenassistenz

Barbara Kretschma

Lichtdesign

Robby Vamos

Lichttechnik

Thomas Nichtenberger
GRAF VON HOHENSTERN
Peter Gabriel
FRIEDRICH Sohne des Grafen
Christoph Schmelzinger
PAUL Sohn des Grafen
Alexander Lainer
BARONIN VON JAROSZYNSKI-KARGENHAUSEN
Gabriele Holzer
ADELE ihre Tochter
Iris Seidl
FUCHS Sekretär der Baronin
Benjamin Turecek
LADY BRIDEWELL
Susanne Adametz
LORD ATWORTH ihr Oheim, englischer Botschafter
Franz Steiner
MISS KEMBLE Kammerfrau der Lady
Bella Rössler
RESTL ein alter Schneider
Bruno Reichert
LINERL seiner Tochter
Rebecca A. Döltl
HYGINUS G. HEUGEIGN Schneider, Linerls Bräutigam
Christian Graf
FINGERHUT Schneidergeselle
Peter Kuno Plöchl
BIEGELSCHEER Schneidergeselle
Horst Salzer
MIRKO Chauffeur
Andreas Herbsthofer-Grecht
GEORG Bedienter
Peter Koliander
BALLGÄSTE, VOLK, SCHWARZE
Sabine Axmann, Günter Ebert, Gerry Fibel, Melina Rössler, Conny Schachelhuber, Sissy Stacher

1. Akt
Graf Hohenstern redet seinem Sohn ins Gewissen, damit er nicht, wie bereits dreimal zuvor, das Zustandekommen einer guten Partie durch anderweitige Verhältnisse vereitelt. Ansonsten werde Friedrich enterbt und sein Bruder Paul zum Bevorrechtigten. Friedrich gelobt Besserung und versichert, Lady Bridewell von ganzem Herzen zu lieben. Um diese Heirat zu verhindern, haben Fuchs und die Baronin von Kargenhausen eine Intrige gesponnen, denn Paul unterhält eine Beziehung zu Adele. Überraschenderweise hat Restl den Auftrag bekommen, für einen Kostümball ein Feenkleid zu schneidern. Es soll sein letztes Stück sein, bevor er sich zur Ruhe setzt und das Geschäft seinem Schwiegersohn Heugeign übergibt. In zwei Tagen soll dessen Hochzeit mit Linerl stattfinden. – Auftrittslied Heugeign I, 8 („Ich bin, was is weiter“). – Äußerst eifersüchtig reagiert Heugeign, als Linerl ihm gesteht, Friedrich bereits einmal gesehen zu haben. Es gelingt ihr jedoch, ihn von ihrer völligen Unschuld zu überzeugen. Doch obwohl Heugeign Linerl „einen Engel“ nennt, klagt diese: „Dein Gott bleibt doch nur die Politik.“ Wirklich hat Heugeign beschlossen, nicht mehr als Schneider zu arbeiten, sondern sich nur noch der Politik zu widmen. Er fühlt sich als Künstler in seinem Beruf nicht ausreichend beachtet und strebt danach, eine führende politische Persönlichkeit zu werden. Die politische Partei oder Richtung ist ihm dabei nebensächlich. Linerl und Restl sind über seine Ambitionen beunruhigt. Als Auftraggeberin für das Feenkostüm erscheint Lady Bridewell in Begleitung von Atworth in Restls Laden. Sie hat das Kleid bei diesem unbekannten Schneider in Auftrag gegeben, damit niemand vor dem Ball davon Kenntnis bekommt. Während der Anprobe entdeckt Jean den Wagen der Lady vor dem Laden und informiert Paul darüber. Umgehend verlangt Paul von Restl Auskunft über die fremde Dame. Restl verweist ihn auf Heugeign. Fuchs macht Paul den Vorschlag, nicht nur die Beziehung von Lady Bridewell zu Friedrich zu hintertreiben, sondern gleichzeitig für eine Mesalliance zu sorgen. Ohne das Mädchen näher zu kennen, kommt ihnen das kurze Zusammentreffen von Linerl und Friedrich in den Sinn. Von Paul erhält Heugeign eine Börse mit Dukaten und den Auftrag, die Dame im Nebenzimmer möglichst geschmacklos zu kostümieren. Zwar nimmt Heugeign das Geld an, doch sein Schneiderstolz verbietet es ihm, das Verlangte zu liefern. Um Zugang zum Nebenzimmer zu erlangen, läßt Paul sich ein fingiertes Billett überreichen, in dem behauptet wird, seine Verlobte Adele befinde sich bei diesem Schneider. Zu Atworths Erleichterung meldet Heugeign, die Dame sei unbemerkt abgefahren. Um ein Haar hätte der unbedarfte Restl die Lady noch verraten, doch im letzten Moment rettet Heugeign die Situation durch seine Schlagfertigkeit. Erst im nachhinein erfährt Heugeign die Identität seiner reichen Kundin. Sofort ist er fest davon überzeugt, daß man seine Genialität prüfen wollte, denn man habe „höhere staatspolitische Zwecke“ für ihn. Heugeign beschließt, auf den Ball zu gehen, um als Schneider des aufsehenerregenden Kostüms auf der Stelle Karriere zu machen. Auf dem Ball erscheint Adele in einem Kleid, das zunächst die Lady tragen wollte. Somit glaubt sie die Konkurrentin zu einem weniger geeigneten Kostüm gezwungen zu haben. Alles wartet gespannt auf das Eintreffen von Lady Bridewell. Paul, der sie bereits in der Vorhalle sieht, kann sich über das Kostüm kaum halten vor Lachen. Er ist überzeugt, daß Heugeign seinen Auftrag ausgeführt hat, und belohnt ihn großzügig. Auch Atworth hält das Kleid für häßlich und ist außer sich vor Wut. Doch wider Erwarten erntet die Lady bei Friedrich und den Ballgästen großen Beifall. Verärgert verläßt die Baronin den Ball. Paul ist wütend. Atworth dagegen ist überglücklich. Heugeign läßt sich von Lakaien auf den Schultern in den Saal tragen. Dort wird der Schöpfer des Kleides von allen Seiten umjubelt.

2. Akt
In Restls Schneiderladen gehen unzählige Bestellungen hochgestellter Persönlichkeiten ein, doch angesichts der fortschreitenden Revolution verweigern die Gesellen die Arbeit. Zudem hat Heugeign ihnen die Abschaffung der Arbeit versprochen, sobald er die Macht habe. Unerwartet erscheinen Fuchs und Paul bei Linerl. Dem erschrockenen Mädchen erzählen sie, ihr Bräutigam sei durch seine politischen Umtriebe in eine lebensgefährliche Situation geraten, aus der nur sie ihn durch eine Fürsprache bei Friedrich retten könne. Friedrich wurde erzählt, die Lady halte auf ihrem Schloß Rosenburg ein Mädchen aus Eifersucht gefangen. Zudem wurde ihm eine Aufforderung zu einem nächtlichen Rendezvous übergeben. Gleichzeitig tragen Adele und ihre Mutter Lady Bridewell zu, daß Friedrich sich in Föhrenburg aufhalte, um dort eine „Teichenauer Schönheit“ zu treffen. Wie erwartet will die Lady umgehend abreisen, um sich selbst von der Untreue ihres Zukünftigen zu überzeugen. Zuvor ernennt sie Heugeign noch zum Inspektor ihrer Garderobe, doch der Schneider hat nach wie vor höhere Ziele und lehnt das großzügige Angebot ab. Unter Androhung von Gewalt zwingt Fuchs Heugeign, die junge Frau herzurichten, mit der sich Friedrich treffen soll. Zunächst bleibt Heugeign standhaft, doch dann gelangt er zu der Überzeugung, man wolle eine Prüfung seines Mutes haben, denn „wer unter Dolchen Maß nimmt, der könne auch im Kugeldonner Regierungsplane machen.“ In der vermummten Gestalt, mit der er kein Wort wechseln darf, erkennt Heugeign seine Braut nicht, obwohl ihre Maße ihn an sie erinnern. Nachdem Linerl weggeführt wurde, erhält Heugeign den Befehl, ihr in zwei Stunden ein Kostüm wie das der Lady zu schneidern. Er beschließt, einfach das vorhandene Kostüm zu ändern. Während er noch nachdenkt, trifft er unerwartet auf Lady Bridewell, die durch einen Eilboten einen Brief erhielt, in dem Atworth sie über das Komplott unterrichtet. Bereitwillig läßt Miß Kemble Heugeign das Billett lesen. Als er Linerls Namen findet, sinkt er ohnmächtig zurück. Nachdem er sich erholt hat, liest Heugeign in dem Billett nach, wie sich das arrangierte Treffen abspielen soll. – Lied Heugeign II, 17 (R: „Da hört es auf ein Vergnügen zu seyn.“). – Ohne voneinaner zu wissen und ohne sich gegenseitig zu erkennen, erscheinen Heugeign für Friedrich und Lady Bridewell für Linerl bei der arrangierten Verabredung. Tief enttäuscht glauben beide, ihren Partner bei einer Untreue ertappt zu haben. Beide Beziehungen scheinen für immer zerstört. In der Zwischenzeit hat Restl über Umwege erfahren, wo Linerl sich befindet. Heimlich hat er sich in den Schloßgarten geschlichen, wo er auf Heugeign trifft, der ihm von Linerls Untreue erzählt. Damit Restl sich frei bewegen kann, gibt Heugeign ihm Mantel, Hut und Maske, die er für die Rolle des Friedrich benutzte. Von Linerl und Lady Bridewell erfährt Heugeign endlich die Wahrheit über das Rendezvous. Kurz darauf müssen Miß Kemble und die Lady durch Friedrichs Ankunft feststellen, daß offenbar eine unbekannte Person Friedrichs Rolle bei dem Stelldichein übernommen hatte. Sofort wird nach dem Täter gefahndet. Der Verdacht fällt auf Restl. Linerl hatte am Ort des Treffens Heugeigns Fingerhut gefunden und ist sich damit über die gesuchte Person im klaren. Doch bevor sie Heugeign verklagt, um ihren Vater zu retten, erscheint Atworth. Er ist der festen Überzeugung, in Fuchs den Schuldigen gefunden zu haben. Da Heugeign Fuchs dieses Mißverständnis gönnt, läßt er die wahre Begebenheit ungeklärt. Friedrich selbst war nur angereist, um Lady Bridewell sobald wie möglich zu heiraten. Enttäuscht darüber, daß man keine höheren politischen Ziele für ihn hatte, verspricht Heugeign seinem Schwiegervater und seiner Braut, sich fortan nur noch dem Schneiderhandwerk zu widmen.

Aus dem „Nestroy-Schauspielführer“ von Jürgen Hein und Claudia Meyer, Verlag Lehner

37. Internationale Nestroy-Gespräche 2011
Routine und Experiment bei Raimund und Nestroy 

Freitag, 1. Juli 2011
Anreise nach A 2320 Schwechat, Justiz-Bildungszentrum (Schloss Altkettenhof), Schloßstraße 7 (Tagungsbüro im Foyer ab 14:30 bis 18:30 Uhr geöffnet)
18:30 Begrüßung
20:30 Schwechat, Schloss Rothmühle, Rothmühlstraße: Aufführung 39. Nestroy-Spiele: „Der Mann an der Spitze oder Lady und Schneider“ (Regie: Peter Gruber)

Samstag, 2. Juli 2011
9:00 Einführung
9:10 Galina Hristeva (Stuttgart, D): Im „Gorgonenantlitz des Schicksals“? Nestroys Geschichtsauffassung zwischen Routine und Experiment
9:50 Walter Pape (Köln, D): „Das Sujet ist unbedeutend“. Komödie und Posse zwischen Experiment und Routine
Pause
10:50 Hans-Jürgen Schrader (Genf, CH): Experimente und Routinen in Sachen Liebe und Ehe: Einen Jux will er sich machen, Das Mädl aus der Vorstadt, Zeitvertreib
11:30 Der Mann an der Spitze oder Lady und Schneider – Diskussion über Stück und Aufführung: Der „politische“ Nestroy – damals und heute Moderation und Impulsreferat: Marion Linhardt (Bayreuth, D): Der beschleunigte Mensch. Hyginus Heugeign und Hartmut Rosa – ein Versuch
Mittagspause
15:00 Rudolf Muhs (London, GB): „Also gar kein politischer Hintergrund?“ Lady und Schneider als postrevolutionäre Posse
15:40 Franz Schüppen (Herne, D): Lady und Schneider: Lebensplanung, Liebe und Politik im 19. und 21. Jahrhundert Reflexion, Diskussion und
Pause
17:20 Thomas Aigner (Wien, A): Neu entdeckte Musikhandschriften Ferdinand Raimunds
18:00 Thomas Steiert (Bayreuth, D): Die „entfesselte“ Phantasie. Zur Rezeption eines Raimund-Stückes seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert

Sonntag, 3. Juli 2011
9:00 Susanne Winter (Salzburg, A): Lachkultur und Märchenwelt bei Carlo Gozzi und Ferdinand Raimund
9:40 Andrea Hanna (Belfast, GB): Der Zufall bei Raimund und Nestroy: die Routine auf den Kopf gestellt
Pause
10:40 Daniel Ehrmann (Salzburg, A): „[…] den wahren Wert des Glückes lehren.“ Experimentelle Transformationen des klassischen Humanitätsideals bei Ferdinand Raimund
11:20 Roman Lach (Berlin, D): Maschinen und Wortspiele: Raimunds Die unheilbringende Krone als synthetisches Welttheater
Mittagspause
15:00 Martin Stern (Basel, CH): Zwei Satiriker im Vergleich: Fortschrittswahn und Dummheit bei Johann Nestroy und Gustave Flaubert
15:40 Gábor Kerekes (Budapest, H): Nestroy in Ungarn
Pause
16:40 Matthias Mansky (Wien, A): Aufklärerische Komödien ‚à la Bernardon‘? Überlegungen zu den Diskrepanzen von Theaterkritik und Bühnenpraxis im Wien des 18. Jahrhunderts
17:20 Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck, A): Bauernfelds politisches Lustspiel Großjährig
17:40 Arnold Klaffenböck (Strobl, A): Kurt Sowinetz – Nestroyspieler zwischen Experiment und Routine
Pause
19:30 Lesung: Matthias Schleifer (Bamberg, D): Nestroy-Sonette

Montag, 4. Juli 2011
Forum: Funde – Fragen – Berichte:
9:00 Alice Waginger (Wien, A): Opernprojekt Die schwarze Frau von Adolph Müller und Carl Meisl
9:40 Weitere Berichte und Resümee
Mittagspause
12:00 Exkursion. Leitung: Walter Obermaier (Wien, A)
Pause
19:30 Empfang

Dienstag, 5. Juli 2011
Abreise

„Wir begehren ein Volk“

Sonntag, 3., 10., 17., 24. Juli, jeweils 10:30 Uhr

Eine liberal-legitim-konservativ-radikal-oligarchisch-anarchische oder gar kanarchische Revue, in der Ihnen endlich gesagt wird, was Sie denken. Ein unterhaltsames, kabarettistisches Frühstücksprogramm von und mit Rebecca Alice Döltl, Alex Lainer, Iris Seidl und Ben Turecek.

Der Standard, 9./10. Juli 2011: Populist HG will nach oben

Schneider Heugeign will ganz nach oben. Dementsprechend hieß das Stück, das die Nestroy-Spiele Schwechat für diesen Theatersommer ausgegraben haben, ursprünglich Der Mann an der Spitze, ehe Johann Nestroy den Titel in Lady und Schneider änderte.

Auf die Niederschlagung der Märzrevolution von 1848 Bezug nehmend, erzählt die Posse, wie besagter Schneider, blind vor politischem Ehrgeiz und Liebe zu den eigenen Kreationen (Kostüme: Okki Zykan), in die Intrigen des Hofes verwickelt wird.

Die Schwechater Theatertruppe um Intendant und Regisseur Peter Gruber ergänzt den ursprünglichen Text mit Zitaten aus anderen Nestroy-Stücken und aktuellen Diskussionen und holt ihn damit stärker in die Gegenwart. Der alte Titel darf wieder nach vorn, Heugeign, den Christian Graf mit dem Charme eines Reinhard Fendrich ausstattet, wird zur wunderbaren Figur.

Als Bilderbuchpopulist, der sich HG nennen lässt, verkündet er, dass seine Ehre Treue heißt, während das Volk im Rücken des Publikums begeistert johlt. Ein Programm hat er zwar nicht, dafür markige Sprüche und Zug zum Tor.

Auf Alexandre Collons Bühne geben sich auch andere Darsteller outriert, ohne die Grenze zum Klamauk zu überschreiten. Sympathieträger ist Bruno Reichert als alter Schneidermeister Restl, der in seiner übervorsichtigen Art den Gegenpart zum opportunistischen Himmelsstürmer Heugeign gibt. (wall)

APA, 27. Juni 2011: Nestroy in Schwechat mit Aktualität

Peter Gruber inszenierte eine kritische Parabel mit vielen Gegenwartsbezügen.

Für seine 39. Produktion bei den „Nestroy Spielen Schwechat“ hat Intendant Peter Gruber eine Rarität ausgewählt: Am Samstagabend ist „Der Mann an der Spitze“ (von Nestroy aus Vorsicht vor der Zensur mit dem unverfänglichen Titel „Lady und Schneider“ versehen) im Hof von Schloss Rothmühle (Rannersdorf) zur Premiere gelangt. Fazit: keine epochale Wiederentdeckung, aber ein passendes – und passend bearbeitetes – Stück zur Zeit.

Bis heute als sperrig, kompliziert und kaum aufführbar geltend, meist seiner kritischen Aussagen beraubt und zur dürftigen Verwechslungsklamotte verstümmelt, fristete „Der Mann an der Spitze“ bisher sein Los im Repertoire-Abseits. Dabei ist der Inhalt nicht ohne Brisanz: Ein Schneider mit dem schönen Namen Heugeign macht Karriere und erhofft sich sozialen Aufstieg und vor allem politische Macht. Nestroy spart nicht mit kräftigen Seitenhieben auf abgehobene Hof-und Adelsgesellschaft sowie stumpfes Kleinbürgertum, Gruber wendet die Stoßrichtung gegen politische Emporkömmlinge und unerfreuliche Phänomene unserer Tage. Am Ende fällt der populistisch fantasierende Heugeign aus allen Wolken, denn der neue Herrscher – unverkennbar der junge Franz Joseph – übernimmt das Ruder: Ein Schluss, der vermutlich keine aktuelle Parallele findet.

Auf der von Alexandre Collon in drei Ebenen gestalteten Bühne – im wahrsten Sinne plakativ von Zeitungsannoncen aus der Nestroyzeit dominiert – agiert das wie immer köstlich aufspielende Schwechater Ensemble, allen voran der ausgezeichnete Christian Graf in der Hauptrolle, dessen ausführliche Monologe weite Strecken des Abends tragen. Liebenswert böhmakelnd gibt Bruno Reichert den alten Schneider Restl, Rebecca Alice Döltl ist sein schräges Töchterl, Benjamin Turecek ein windiger Sekretär Fuchs, Gabi Holzer eine schrille Baronin (Kostüme: Okki Zykan), Peter Kuno Plöchl und Horst Salzer verkörpern zwei Schneidergesellen und damit Volkes – dümmliche – Stimme. So richtig gut kommt da gar niemand weg, denn, so Nestroy: „Das Volk is ein Ries in der Wiegen, der erwacht, aufsteht, herumtargelt, alles zusammentritt und am End wo hineinfällt, wo er noch viel schlechter liegt als in der Wiegen.“ (Ewald Baringer)

Kurier, 27. Juni 2011: HC lässt grüßen: „Der Mann an der Spitze“ in Schwechat

Macht ist geil! Darum will Hyginus Heugeign der „Mann an der Spitze“ werden, zumal er sich als Schneider ohnehin verkannt fühlt. Politische Inhalte? Die braucht er nicht, er hat ja vollmundige Phrasen. Nestroy hat hier einen Typ vorweggenommen, der in der Politik gerade en vogue ist – und Peter Gruber (Regie) seziert das zeitgeistige Potenzial des Stücks exakt und lädt es mit aktuellen Wortspenden a la HC Strache oder Ernst Strasser auf, die sich bruchlos ins Original fügen. Christian Graf trifft den maulflinken Karrieristen mit punktgenauem Tonfall; köstlich, wie er Situationen, die aus seiner Vewicklung in eine gräfliche Familienintrige entstehen, im Sinne seiner politischen Ambitionen missdeutet.

In Lady Brideweil (Susanne Adametz als Biedermeier-Lady-Gaga) vermutet er eine politische Gönnerin, dabei ist er für sie nur eine Figur ihres eigenen Ränkespiels. Rebecca Döltl überzeugt als gut geerdetes Linerl, das ihrem verstiegenen Verlobten aus der Klemme hilft. Rührend komisch mit dezentem Böhmakeln zeichnet Bruno Reichert ihren Vater, den alten Schneider Restl, Benjamin Turecek gängelt als Sekretär Fuchs dekadente Aristo-Dodeln. Erwähnenswert das gelungene Bühnenbild von AIexandre Collon. (Barbara Palffy)

Kronen Zeitung, 27. Juni 2011: Pfiffige Posse vom machthungrigen Volk

Ein Emporkömmling, der sich politisch zu positionieren versucht, seine große Zukunft wittert, aber doch nur eine Täschung unterlegen ist und zuletzt brutal in der Realität erwacht. Das erzählt ein Nestroy-Abend im Schloss Rothmühle, den Regisseur Peter Gruber zwischen gestern und heute aufspannt.

„Der Mann an der Spitze oder Lady und Schneider“ ist ein wenig bekanntes Stück Nestroys. Gerade auch das hat der Schwechater Impresario Peter Gruber wohl gereizt, als er sich an die Posse machte: Er hat das Stück adaptiert, viel Aktuelles hinzugefügt.

Der Schneidermeister H G. Heugegn spricht nun die Sprache eines heutigen Populismus, ist in Büdnissen und politischen Bewegungen rechts von der Mitte anzutreffen. Christian Graf, Mittelpunkt des Ensembles, zeichnet den nach oben Strebenden, der die ihn umgebenden Intrigen missversteht, verbissen, aggressiv, wankelmütg. Ein Charakter, der um jeden Preis an die Spitze will, dabei aber zu klein für das politische Spiel der Mächtigen ist. Doch auch der Rest der Figuren bleibt im Allzumenschlichen verfangen, kaum ein Charakter im Volk, der Sympathien weckt. Was man sieht, ist ein Abbild einer machthungrigen Gesellschaft.

Gruber lässt den Abend sauber abschnurren, bringt sein Publikum zum Lachen, schafft pfiffige szenische Lösungen im raffinierten Bühnenbild von Alexandre Collon. Und er bändigt ein Nestroy-Stück, das vielen Kopfzerbrechen bereiten würde. Dass ihm dabei ein Ensemlbe zur Verfügung seht, das so geschlossen ist, wie man sich’s nur wünschen kann – das gehört zu den großen Pluspunkten dieses Schwechater Nestroys! (OL)

Niederösterreichische Nachrichten, 29. Juni 2011:
„Hyginus Heugeign“ – authentisch & vertraut

„Lady und Schneider“, Nestroys 1849 politisch umstrittenstes Stück, ist, heute betrachtet, gar nicht mehr so umstritten. Bis hin zu Nestroys eigentlichen Titel „Der Mann an der Spitze“ lässt Regisseur Peter Gruber Nestroy so zu Wort kommen, wie er es verdient,

Grubers Bearbeitung ist zwar den heutigen politischen Termini angepasst und ohne Nestroy zu verfälschen, dennoch absolut authentisch mit der Szenerie der heutigen Politik. Es ist ihm wieder, wie all die Jahre zuvor, gelungen, Nestroy im Heute zu deponieren. Und dieses Mal ohne das Ganze zu entpolitisieren. Trotzdem ist es geblieben, was es ist – eine Posse. Und weil Peter Gruber die Nestroy-Stücke, die er auswählt, immer zu seinem ganz persönlichen Anliegen machen kann, ist er einer der wenigen Nestroy-Regisseure, an deren Glaubwürdigkeit nicht zu rütteln ist. Als Intendant der Nestroyspiele Schwechat hat er sich im Laufe der Zeit ein Ensemble aufgebaut, das in seiner Einheit beinahe einmalig ist und das mit Nestroys Sprache so vertraut ist, dass sich die Mitglieder mit Fug und Recht als Nestroy-Spezialisten bezeichnen dürfen. Vor diesem Hintergrund wurde auch in diesem Jahr wieder eine Arbeit präsentiert, die den Vorstellungen Nestroys absolut gerecht wird. Mit Bravour mimt Christian Graf den Schneider Hyginus Heugeign, der sich in seiner Selbstsucht den Aufruhr zunutze macht, um seinen persönlichen Aufstieg als Politiker voranzutreiben. Unglaublich authentisch und vertraut Monolog und Couplet in der 8. Szene. Hier wächst Graf beinahe über sich hinaus. Ihm gegenüber zeichnet Bruno Reichert als Restl eine nicht minder glaubwürdige Figur. Bestechend in seiner Komik, aber auch in seiner Angst, lässt er das Publikum sein Dilemma nachvollziehen. Selbstredend stehen Christian Graf und Bruno Reichert stellvertretend für das gesamte Ensemble. Hier hat jeder Einzelne seine Rolle professionell hervorragend gestaltet. Eine ausgezeichnete Leistung, die noch durch ein wieder einmal raffiniertes Bühnenbild von Alexandre Collon und dem Bild angepassten Kostümen unterstützt wurde. Unbedingt sehenswert. (Jopie den Dulk)

Der neue Merker, 26. Juni 2011: „Der Mann an der Spitze“ von Johann Nestroy

Johann Nestroy war, wie übrigens viele seiner dichtenden Zeitgenossen – Franz Grillparzer zum Beispiel –, ein überaus sensibler politischer Kopf. Er lebte allerdings im Zeitalter des so genannten „Systems“, das die Unterdrückung des freien Denkens durch Zensur und Bespitzelung zum perfekt gehandhabten Regelwerk des täglichen Lebens gemacht hatte. Wie reagiert also ein politischer Kopf auf die so elementaren Ereignisse des Revolutionsjahres 1948? Selbstverständlich mit einem politischen Stück. Aber so einfach war das auch 1849 noch nicht …

Erlebt man nun in Schwechat einen Abend namens „Der Mann an der Spitze“, so wüsste man nicht, wo man dieses Stück in seinen gesammelten Werken (wo sich immerhin über 70 Titel versammelt haben) finden sollte. Tatsächlich hat Peter Gruber, als Intendant und Regisseur der Garant dafür, dass das Unternehmen „Nestroy Spiele Schwechat“ seit 1973 (!!!) mit unvermindertem Elan und unverminderter Qualität läuft, dem Werk damit seinen von Nestroy ursprünglich geplanten Titel zurück gegeben. Denn dieser klang damals doch zu „politisch“ und war auch in der Regierung der jungen Kaisers Franz Joseph unerwünscht. Nestroy musste also den unverdächtigen Lustspieltitel „Lady und Schneider“ wählen. Dass er sich hier über die Revolution, die wenig gebracht hatte, offen lustig machte, entschied über den Misserfolg des Stücks nach der Uraufführung. Die Schwechater „Fassung“ sollte es nun seiner Vergessenheit entreißen, in der es seither verharrt ist …

Illusionslos wie immer hat Nestroy, der an den „Fortschritt“ ebenso wenig glaubte wie an einen edlen Kern des Menschengeschlechts, in dem Schneider Hyginus Heugeign den Opportunisten gezeichnet, der den „Umsturz“ einzig und allein dazu benützen will, seinen persönlichen Aufstieg als Politiker zu nützen. Peter Gruber hat – gänzlich legitim, denn Nestroys Theater war immer für die jeweilige Zeit gedacht – das Politikervokabular des Stücks so auf unseren Sprachgebrauch umgeschrieben, dass wir jede Formulierung nur zu gut erkennen, er hat den mehr als fragwürdigen Populisten Heugeign in seiner Eitelkeit, Selbstsucht, Gewissenlosigkeit völlig preisgegeben. Das ist auch deshalb möglich, weil man in Schwechat mit Christian Graf einen der besten Nestroy-Spieler des Landes hat, der das Kunststück schafft, seine Schärfe in die absolute Selbstverständlichkeit des Charakters umzumünzen. Er liefert eine hektische, aber in sich völlig glaubwürdige Virtuosenleistung als Schneider, der sich als großer Volksführer sieht, jede passende Phrase hernimmt und benützt, aber auch ohne Wimpernzucken das Gegenteil sagt … und im übrigen natürlich einknickt, wenn’s hart auf hart geht. Glücklicherweise ist Rebecca Alice Döltl als Schneiderstochter Linerl bei aller Liebe zu diesem Hygninus doch als Persönlichkeit stark genug, dass sie diesen zweifelhaften Kerl glaubhaft einkassieren und zur Nähmaschine zurückstampern kann …

Das andere „politische“ Alltagsporträt, das Nestroy im Gegenzug zu Heugeign geschaffen hat, ist der Schneider Restl, der gelernt hat, sich vor allem zu fürchten, was wie politische Unruhe aussieht, weil er aus eigener Erfahrung wohl weiß, dass für die einfachen Leute dabei nichts Gutes herauskommen kann. Bruno Reichert mit schönem „Böhmakeln“ liefert die zweite große Herren-Leistung des Abends. Und auch für Franz Steiner, eine der Stützen des Schwechater Ensembles, findet sich mit einem englischen Lord eine hübsche, wenn auch als Charakter nicht so bedeutsame Rolle.

Sieht man von den scharf umrissenen Hauptfiguren ab, so ist der Inhalt dieser Posse, in der ein adeliger Bruder einem anderen das Erbe abjagen will (die ursprüngliche Idee zweier rivalisierender Herrschersöhne war nicht zu verwirklichen), eher bescheiden, eine zickige englische Lady (Susanne Adametz in abenteuerlichem Look) und rivalisierende heimische Damen sind ebenso dabei wie glatte politische Intriganten, und Peter Gruber spielt auf der geschickt zweigeteilten Bühne (vorne Schneiderei, hinten die große Welt, aufgebaut von Alexandre Collon) mit heutigen Versatzstücken von „Lady Gaga“ bis pistolenbewaffneten Gangstern. Er tut es mit der lockeren Hand, die das Stück nicht über Gebühr belastet, aber er gibt keinen Zentimeter politischer Bosheit und Einsicht preis. Ein überaus sehenswerter Abend. (Renate Wagner)