Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab

Es ist sicher kein Zufall, dass dieses kaum gespielte Meisterwerk Nestroyscher Sprachkunst zu Helmut Qualtingers Lieblingsstücken zählte. Denn Johann Nestroys 1835 geschriebene Lokalposse, eine köstliche, hintergründige Parodie auf Karl von Holteis 1833 im Theater in der Josefstadt gezeigtes gleichnamiges Rührstück, erzählt vom selbstgefälligen, lieblosen Umgang der Wiener Gesellschaft mit ihren Künstlern und deren Hass-Liebe zu diesem Land. Ein sprachliches Feuerwerk und eine gnadenlose Abrechnung mit dem damaligen Wiener Kulturleben, die keiner Bearbeitung bedarf, um an heutige Verhältnisse zu erinnern. Zeitlos, beißend kritisch und zugleich höchst amüsant. Den Bezug zum Spielort im zauberhaften Ambiente des Schlosses Rothmühle garantiert die Figur des „Weltmannes und Adabeis“ Herrn von Überall, der sich, ausschließlich zwischen Fischamend und Wien hin- und herpendelnd, an der „herrlichen Gegend zwischen Simmering und Schwöchat nicht sattsehen kann“. Für eine aktuelle und zugleich authentische Nestroy-Interpretation sorgt wie immer das bewährte Nestroy-Ensemble rund um Regisseur Peter Gruber. Den Dichter und Musiker Leicht, der sich mit den Wienern so schwer tut, gibt Michael Scheidl.

28. NESTROY Spiele Schwechat
Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab
30. Juni bis 05. August 2000

Regie

Peter Gruber

Regiemitarbeit

Christine Bauer

Bühne und Kostüm

Nora Scheidl

Musik

Kurt Adametz

Licht

Robby Vamos
LEICHT ein Dichter
Michael Scheidl
THERESE seine Frau
Bella Rössler
GRUNDL ein reicher Seifensieder
Hermut Müller
MAY LING seine Gespielin
Sabine Stacher
BLASIUS sein Sohn
Bruno Reichert
STEINRRÖTHL ein Fabrikant
Willibald Mürwald
AGNES seine Tochter
Susanne Urban
CHARLOTTE Stubenmädchen
Regine Rieger
JULIE eine naive Tochter
Dagmar Jedletzberger
JOHANN ihr Bruder
Christian Graf
CHRISOSTOMOS ÜBERALL
Markus Heller
FRAU VON KLATSCH
Christine Zimmermann
FRAU VON BILLIG
Renate Bachtrod
THEATERDIREKTOR
Konrad Kostmann
MISS VIENNA
Esther Potesil
SOUBRETTE
Veronika Hegler
KOMPONISTENWITWE
Elisabeth Strache
PLATTENPRODUZENT
Harald Schuh
VERLEGER
Andreas Herbsthofer-Grecht
INTELEKTUELLE
Gabriele Kozich
MANN GOTTES
Peter Kuno Plöchl
ZWEI POLITISCHE HERREN
Christian Graf, Peter Marsch
AUTOMOBILIST
Stefan Pestl
FOTOGRAF
Florian Haslinger
INBEISLWIRT
Peter Mitsch-Caruso
HEURIGENWIRT
Poldi Selinger
HEURIGENWIRTINN
Traude Selinger
KELLNERINNEN
Alexandra Draxler, Maria Schrittwieser, Maria Sedlaczek, Sissy Stacher
BRAUTJUNGFERN
Alena Koliander, Marlene Mürwald, Sabine Ruprechter
SÄNGERKNABEN-GANG
Aljoscha Ambrosch, Lukas Hausner, Florian Rössler
KOLPORTEUER
Peter Koliander
POLIZISTEN
Edi Gnadlinger, Peter Kuno Plöchl

1. Akt
Der Dichter Leicht liest einer Gesellschaft sein neues Stück vor, das niemanden begeistert. Nach heftigem Zureden ist der Theaterdirektor schließlich bereit, ihm dieses Stück und ein anderes für zusammen sieben Gulden abzukaufen. Leicht fühlt sich ungerecht behandelt. Während Blasius unverblümt erklärt, ihm habe das Stück nicht gefallen, versichert Agnes allerdings, sie habe sich sehr amüsiert. Um sich dem Essen zuzuwenden, läßt Blasius die beiden alleine. Er ist sich sicher: „ […] ich hab nichts zu reskiern, sie hat mir ja ewige Liebe geschworen, mein Vertrauen ist unerschütterlich.“ Leicht macht Agnes Avancen, die sie nicht zurückweist. Es stellt sich heraus, daß sie nicht auf das Stück, sondern lediglich auf den Dichter geachtet hat. Leicht weigert sich, an der Gesellschaft teilzunehmen. Blasius verabschiedet sich daraufhin von seinem Freund und trägt ihm Grüße an seine Frau auf. Agnes ist schockiert über die Entdeckung, daß Leicht verheiratet ist. Verletzt schickt sie ihn fort. Nach Leichts Weggang erkennen Blasius und Steinröthl, daß sie mit dem Dichter zu hart umgesprungen sind. Auch Agnes glaubt, sie habe ihn zu Unrecht gekränkt. Gedankenverloren steht sie bei Vater und Bräutigam. Dennoch schöpft Blasius keinerlei Verdacht. – Auftrittslied Therese I, 8 („A Dichtersfrau hat nur Malör“). – Als Therese hört, daß Leicht die verdienten sieben Gulden beim Billard verloren hat, ist sie verzweifelt. Doch Leicht bleibt sorglos und wirft ihr vor: „Wie hast du können die Gattinn eines Dichters werden, wenn du Anspruch auf irdische Nahrung machst?“ – Lied Leicht I, 9 („Geh’ her saubers Madl, i lern’ dir a Lierd“). – Um Leicht zu versöhnen, besuchen Überall und Blasius ihn und bringen die Zutaten für einen Punsch mit. Überall erzählt wie immer von Fischament. Er ist sehr stolz darauf, mindestens 200 Mal im Jahr von Wien nach Fischament und zurück zu reisen. – Punschlied mit Chor I, 11. – Zu später Stunde erscheint Charlotte. Sie bringt einen Narrenstab von Agnes, der mit Dukaten gefüllt ist. Darüber ist Blasius leicht verärgert, traut sich aber nicht, Charlotte eine entsprechende Antwort an Agnes aufzutragen. Freudig liest Leicht den beiliegenden Brief. – Finale Leicht I, 13 („Sie schreibt mir a Brieferl auf g’farbten Papier“). – Das Geld, der Punsch und Agnes’ Liebesbrief haben Leicht trunken gemacht. Erschöpft schläft er am Tisch ein. Blasius schüttet die Dukaten über ihm aus, und Überall legt die Rumflasche auf ihn: „So, jetzt ruht [der] Dichter bedecket mit Ruhm.“

2. Akt
Chor der Gäste II, 1. – Ein Jahr später schimpft man im Kaffeehaus über Leichts gerade aufgeführtes Stück. Unerkannt sitzt der Dichter zwischen den Gästen. Als auch Gottfriedl über das Stück herzieht, ist seine Geduld jedoch zu Ende. Ärgerlich wirft er den Jungen zu Boden. Man ruft den Wächter zu Hilfe. Wächter mit Chor II, 5. – Grundl löst Leicht beim Wächter aus und bezahlt Gottfriedl zwei Zwanziger Satisfaktion. Entsetzt ist Leicht allerdings, als Grundl ihn bittet, für die an diesem Tag stattfindende Hochzeit von Blasius und Agnes ein Gedicht zu verfassen. Zunächst lehnt Leicht entschieden ab. Dann kommt ihm ein Gedanke, und er beginnt sofort zu arbeiten. Klopfer, der ihn ermahnt, er müsse sich um seinen kleinen Sohn kümmern, beachtet er gar nicht. – Duett Grundl, Blasius II, 9 („Wenn’s Weib dir was schafft, was willst machen? – so thu’s“). – Überall gesteht Agnes seine Liebe. Da sie sich weigert, ihm eine Locke zu überlassen, versichert Überall: „Und im Grund gar so viel liegt mir ja doch nicht dran an Ihnen.“ Er ist überzeugt, sie durch eine kurze Fahrt nach Fischament zu vergessen. – Lied Überall II, 11 (R: „So was gieng mir ab vor mein End, / Nein, ich reis’ nur nach Fischament.“). – Charlotte erzählt Agnes, Leicht sei vor vier Monaten von seiner Frau verlassen worden. Sein kleines Kind, um das er sich überhaupt nicht kümmere, irre ständig durch die Nachbarschaft. Charlotte bittet Agnes, das Kind anzunehmen. Dazu ist sie gerne bereit. Blasius dagegen weigert sich. Da Agnes jedoch hartnäckig bleibt, befiehlt er schließlich gebieterisch, das Kind anzunehmen. – Lied Agnes II, 16 („D’Männer schmachten und seufzen, und schauen uns nach“). – Leicht ist außer sich über die anstehende Hochzeit. Am liebsten würde er den Bräutigam mit seinem Narrenstab erschlagen. – Chor mit Charlotte II, 19. – Das Brautpaar wird mit Jubel begrüßt. Überall übernimmt die Aufgabe, das Hochzeitsgedicht vorzutragen. Nach den ersten Worten, in denen Leicht von Untreue spricht, bricht Überall ab, behauptet, es handle sich um einen Scherz und zerreißt das Blatt. Man begibt sich zur Tafel. Alleine mit Agnes, macht Leicht ihr Vorwürfe. Seiner Meinung nach hätte sie für immer ledig bleiben sollen. In der Theaterzeitung entdeckt Leicht eine schlechte Rezension seines Stückes. An dem Satz „Dem Dichter fehlt es gänzlich an Verstand“ glaubt er, Blasius als Autor zu erkennen. Wütend packt er den eintretenden Bräutigam am Kragen. Es kommt zu einem allgemeinen Tumult, in dessen Verlauf Leicht von den Dienstboten aus dem Haus geworfen wird. – Chor der Dienstleute II, 24.

3. Akt
Chor III, 1. – Zwanzig Jahre später machen Überall, Blasius, Agnes und ihre zwei Kinder nach einem Spaziergang Rast in einem Gasthaus. – Lied Leicht III, 3 („Ich zieh’ als Harfenist herum“). – Leicht zieht als Harfenist durch das Land. Dem Gastwirt, dem der bestellte Harfenist abgesagt hat, kommt er sehr gelegen. In einem ruhigen Moment offenbart Überall Johann, daß er ein angenommenes Kind sei. Von seinem Vater Leicht nimmt man an, daß er seit Jahren tot sei. Johann ist hocherfreut über diese Offenbarung, weil er auf diese Weise die naive Julie heiraten kann, die nun nicht mehr seine Schwester ist. – Ballade Leicht III, 10 („An Sonntag steh i Vormittag“). – Die Familie erkennt den Harfenisten nicht. Nur in Agnes keimt ein Verdacht, als sie den alten Narrenstab sieht und Leicht äußerst abweisend auf einen Gulden reagiert, der in einen Theaterzettel eingewickelt war. Um sich aus dieser Abneigung einen Spaß zu machen, reicht Überall Leicht ein Stück Kuchen auf dem Zettel. Erstaunt liest Leicht, daß man eines seiner Stücke bereits zum 100. Mal spielt. Er führt diesen Erfolg darauf zurück, daß man ihn seit vielen Jahren für tot hält. – Julie beginnt, ein Lied aus Leichts Stück zu singen. Als sie nicht weiter weiß, fällt Leicht ein und singt es zu Ende. Nun erkennt man sich gegenseitig. Freudig bittet die Familie Leicht zu bleiben und seinen Erfolg bei ihnen zu genießen. Er zieht es jedoch vor, weiter durch das Land zu ziehen. Johann erklärt er: „Ich hab nie nach dem Lorber getrachtet, drum is auch das, was ich jetzt in der Hand halt’, kein Bettelstab.“ – Schlußgesang Leicht mit Chor der Landleute III, 10 („Ein steiler Felsen ist der Ruhm“).

Aus dem „Nestroy-Schauspielführer“ von Jürgen Hein und Claudia Meyer, Verlag Lehner

Original-Stückfassung | Historisch-kritische Ausgabe (HKA 8/II Friedrich Walla)

26. Internationale Nestroy-Gespräche 2000 
„Bis zum Lorbeer versteig ich mich nicht …

“ Der vielzitierte und häufig als Selbstaussage Nestroys interpretierte Ausspruch des Dichters Leicht in der Parodie Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab (1835) war der Ausgangspunkt. Allerdings wurde weniger dem Selbstverständnis Nestroys als Possendichter nachgegangen als – in Fortsetzung der Gespräche der beiden letzten Jahre – Fragen der Rezeption und Aspekten der Parodie. Kurt Krolop (Prag) lenkte den Blick auf den von Karl Kraus wiederentdeckten Prager Theater- und Musikkritiker Bernhard Gutt und dessen Beurteilungskriterien. Gutt erkannte insbesondere die „Austiefung“ des Komikers Nestroy als synthetisierendes Element zwischen dem Schauspieler und dem Stükkeschreiber. – Andreas Thomasberger (Frankfurt/M.) ging den Spuren der Nestroy-Lektüre Hugo von Hofmannsthals und deren Einflüssen auf sein Werk (insbesondere in nachgelassenen Entwürfen) nach; Hofmannsthal sprach im Tagebuch vom „Lehrer Nestroy“, an anderer Stelle von dessen „scharfer Kontur“. Im Werkkontext Hofmannsthals wurde die Spezifik der intertextuellen Relation deutlich und ebenso – z. B. im Blick auf den Jedermann – das Problem der „Volkstümlichkeit“. – Jürgen Doll (Poitiers, F) untersuchte an wenig bekannten Quellen und Dokumenten die Bedeutung Nestroys für die Wiener Kleinkunstszene der dreißiger Jahre (Der liebe Augustin, Literatur am Naschmarkt, Die Stachelbeere, ABC) und deren häufig beschworene Erneuerung des Volkstheaters. Je nach politisch-ideologischem Standort können unterschiedliche Bezüge zum Wiener Volkstheater ausgemacht werden: Aktualisierung des Kasperltheaters, Politisierung des Besserungsschemas (Jura Soyfer), Formen der Parodie. Soyfer habe als einziger unter den Kleinkunstautoren ernsthaft versucht, das Erbe für eine aktuelle Form des Volksstücks fruchtbar zu machen. [1] – Gerald Stieg (Paris) analysierte nach einem Blick auf Nestroys Probleme mit der Zensur bei Häuptling Abendwind (1862) heutige Kontrafakturen der Posse von Helmut Eisendle, Elfriede Jelinek, Libuše Moníková und Oskar Pastior. [2] Er zeigte, auf welche Weise sich die unterschiedlichen literarischen Positionen und Interessen in den Transformationen des Ausgangstextes artikulieren und wie das Thema des Kannibalismus zum Demonstrationsobjekt für kritisch gesehene „Diskurse“ aus Ethnologie und Psychologie (Eisendle, Monikova), zu einem radikalen Sprachspiel (Pastior) und zu einer politischen Satire (Jelinek) wird. – Alfred Strasser (Raeren, B) unterzog die von der Kritik als postmoderne Volksstücke bezeichneten Dramen Werner Schwabs einer Analyse. Die Stücke entsprächen zwar vordergründig in Figurenkonstellation und Nestroy entlehnter sprachlicher Verfahrenstechniken der Lokalposse, doch löse Schwab die Ansprüche des Volksstücks nicht ein, denn seine Figuren seien weder eindeutig sozial bestimmt, noch sei die Handlung auf irgendeine Botschaft hin ausgerichtet, vielmehr habe er die Absicht verfolgt, das Volksstück, das er als „das Absurdeste“ in der Literatur bezeichnet, als „jene Form, die mir am widerlichsten war“, durch Aufhebung der Kommunikation in einer hermetischen Kunstsprache zu zerstören. Der zweite Themenkreis war der Parodie bei Nestroy gewidmet, insbesondere den beiden Holtei-Bearbeitungen. – Silke Arnold-de Simine (Mannheim) stellte im Kontext der Überlegungen von Michail Bakhtin „Karneval als Motiv und Textstrategie in Nestroys Die verhängnißvolle Faschings-Nacht (1839)“ dar, demzufolge der närrische „mundus inversus“ des Karnevalesken Grenzen zwischen Oben und Unten, Kunst und Leben, Ernst und Spaß, Lachendem und Verlachtem auflöse: Bei Nestroy spielen karnevalistische Elemente nicht allein als Thema (Motive der Maskierung, Umkehrung der Standesrollen, Entlarvung eines hochgespannten Liebes- und Ehrbegriffs), sondern vor allem als Textstrategie eine wichtige Rolle, wobei allerdings die Gattungsbestimmung der Trauerspiel- Parodie schwierig wird.[3] Mathias Spohr (Zürich) plädierte für einen weiten und medial definierten Parodie-Begriff. Bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts unterscheide sich das, was Parodie genannt wird, kaum von dem, was wir heute Bearbeitung, Neufassung oder Inszenierung nennen. Eine Parodie war eine Umsetzung in eine andere Aufführungssituation, und ein Stilgefälle gegenüber ihrer Vorlage war nicht kommentierend gemeint, sondern sozial bedingt. Berühmte oder erfolgreiche Stücke wurden parodiert, um von ihrer Bekanntheit zu profitieren, nicht um sie zu kritisieren. Demgegenüber sei Nestroy als Stoffverwerter und zugleich kritischer Bearbeiter – der Inhalte wie der Verfahren – schon ein Vertreter der ,modernen‘ Parodie. – Andreas Böhn (Mannheim) fand mit Blick auf Bakhtins „Vielstimmigkeit“, die die Integration disparater Elemente erlaube, in Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab Parodie, Satire und Metatheater zugleich. Mit der parodistischen Durchführung des Motivs des verkannten Dichters sei die Satire auf den ,Literaturbetrieb‘ und das kulinarische Kunstverständnis des bürgerlichen Publikums verbunden. Der „Zwetschkenkrampus“ werde zum Symbol einer volkstümlichen Karnevalisierung. In der Schwechater Inszenierung von Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab zeigte Peter Gruber wieder einmal, wie ein Nestroytext ohne starke Eingriffe und erzwungene Modernisierung aktuell gespielt werden kann und daß Nestroys Satire auf die Kulturspießer auch heute noch trifft, ja in der Zuspitzung Züge der ,Realsatire‘ annimmt. Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH) fragte, ob David Kalisch (1820–1872), ein Seismograph der werdenden Metropole Berlin, ein „preußischer Nestroy“ genannt werden könne und wies auf ein Forschungsdesiderat hin: Wiener und Berliner Volkstheater im Vergleich und in wechselseitiger Beeinflussung (z. B. Nestroys Bearbeitung von Berliner Possen: Frühere Verhältnisse [nach Emil Pohl, 1862], Ein gebildeter Hausknecht [nach David Kalisch, 1858]), vor allem im Umkreis von 1848. – Walter Schlögl (Wien) stellte am Beispiel von Der böse Geist Lumpacivagabundus (1833) Nestroy-Vertonungen seit 1938 in Wien dar (u. a. Steinbrecher, Eisler, Pawlicki, Lang, Zelibor, Bronner, Kann) und wies auf Abgrenzungsschwierigkeiten („nach Motiven von“) und auf das Problem der ‚zeitgemäßen‘ Bearbeitung hin. – Fred Walla (Newcastle, AUS) berichtete über den Fund einer weiteren Vorlage zu Der alte Mann mit der jungen Frau (1849): ein französisches Melodrama Émery le négociant (1842), das auf einen Roman von Paul Lacroix zurückgeht (Le Marchand du Havre, 1838). Die von Walter Obermaier (Wien) geleitete Exkursion führte von der Begegnung mit dem Tod (Bestattungsmuseum) zum (Theater-)Leben hinter die Kulissen des Theaters an der Wien (Führung durch Peter Back-Vega) und zu den Spuren Nestroys in der Leopoldstadt.

[1] Jürgen Doll: Theater im Roten Wien, Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers, Wien 1997.
[2] Anthropophagen im Abendwind, Vier Theatertexte nach Johann Nepomuk Nestroys Häuptling Abendwind oder das gräuliche Festmahl, Helmut Eisendle, Elfriede Jelinek, Libusˇse Moníková, Oskar Pastior, hg. von Herbert Wiesner, Berlin 1988.
[3] Silke Arnold-de Simine: Vielstimmigkeit und Dialogizität in Nestroys Posse Die verhängnisvolle Faschingsnacht, Sprachkunst 34 (2003), S. 13–29.

Der Standard, 4. Juli 2000: Dichterlorbeer als Gewürzkrämerblatt

„Ich beleidige die ganze Welt, weil die ganze Welt mich beleidigt“, donnert der Dichterfürst in die schicke Tischgesellschaft und verlässt wutentbrannt das Dinner, das ihm zu Ehren angerichtet wurde. Grund des Eklats: Er hat gerade mit der Lesung seines neuesten Stückes Perlen vor die Säue geworfen und nur Grunzen geerntet.

Der Beleidigungsvirtuose, rappelköpfig gespielt von Michael Scheidl, heißt Leicht, ein Vorfahr von Bernhards Beschimpfungsmeistern, der da in Nestroys Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab die Gesellschaft verflucht.

Bevor der arme Musensohn aber das Weite sucht, hat er noch eine verhängnisvolle Affäre mit der Fabrikantentochter Agnes (Susanne Urban), die vom „Dichterfabrikanten“ in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht werden möchte. „Kost’t die Lieb’ denn nicht das Herz, was man dabei verschenkt?“, flötet sie mit großen Augen.

Nestroy-Veteran Peter Gruber hat die „parodierende Posse mit Gesang“ im Rahmen der „28. Nestroy Spiele Schwechat 2000“ inszeniert und dabei wieder mit seinem in Hochform befindlichen Amateurensemble keinen Witz und keine Bosheit gescheut, im Hof von Schloss Rothmühle den Zeitgenossen im Possenklassiker zu entdecken: ein grelles Spektakel über „Schickis und Mickis, Flippis und Fipsis“, Lemuren und Adabeis, die den Ton angeben, während die Künstler vertrieben werden.

Und alle bekommen sie da in den Couplets ihr Fett ab, vom Staatsekretär Morak, „den keiner will“, vom „Westentaschl“ bis zu Hilmar „Hump-Dump“ Kabas. Anders als im Original, wo der Dichter vor dem Triumph der Mittelmäßigkeit kapituliert, erfasst ihn in Grubers Version ein großes Grausen: Er erschießt sich, um höhnisch nachgerufen zu bekommen: „Musste er denn sterben, um zu leben?“

Beim Verlassen des Rothmühle-Parks wünscht man sich, dass dieser fröhlich-anarchische Umgang mit Nestroy auch auf Wien übergreifen möge. (Lothar Lohs)

Wiener Zeitung, 3. Juli 2000: Satire gegen die Schickeria

Die Nestroy-Spiele Schwechat im Schlosshof Rothmühle haben sich heuer wieder einen selten gespielten Nestroy ausgesucht. Die Spießersatire „Weder Lorbeer noch Bettelstab“ hat Regisseur Peter Gruber mit seinem auf Nestroy’sche Zwischentöne spezialisierten Laienensemble als Angriff auf die Kulturschickeria inszeniert. Das Ensemble wird verstärkt durch den stilsicheren Michael Scheidl in der Nestroy-Partie des Dichters Leicht.

„Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“ nimmt sich die Auseinandersetzung eines Künstlers mit der Gesellschaft zum Hauptthema. Im Gegensatz zu den bisherigen Nestroy-Interpretationen, bei denen Gruber lustvoll und gagreich aktualisierte und schwadronierte, arbeitet er diesmal mehr die bitteren und leisen Zwischentöne heraus.

Die typisch österreichische Geschichte des Leichts, dessen Werke zu Lebzeiten verschmäht werden und erst nach dessen vermeintlichem Tod zum „Verkaufshit“ werden, gestaltet Gruber zum resignativen Kammerspiel. Angesichts der erschreckenden Aktualität bleibt einem das Lachen nicht im Halse stecken, sondern wird geradezu im Keim erstickt. Nestroy-Interpretation vom Feinsten. (Brigitte Suchan)

Kurier, 2. Juli 2000: Dichter Leicht beglückt mit Gram

Nach Schwechat fahren lohnt sich: „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“.

Manchmal ist es schon ein Glück, wenn man keine böse Kritik schreiben muss. Über solche regt sich Nestroys temperamentvoller „Dichter Leicht“ nämlich immer furchtbar auf. Also – gänzlich unbeeinflusst von Leichts schweren Melancholie-Anfällen ist zu sagen: Ein wirkliches Vergnügen ist Peter Grubers Inszenierung von Johann Nestroys Posse „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“ bei den Schwechater Nestroy-Spielen. Mit Witz und viel Liebe zum Detail hat Gruber die 1835 verfasste Abrechnung mit der sogenannten kunstinteressierten Gesellschaft zeitgeistig aufgespritzt und ins freundliche Ambiente des Schlosshofs Rothmühle von Rannersdorf eingepasst. Dichter Leicht hat es schwer: Keiner weiß seine Stücke zu schätzen. Eine Liebesplänkelei mit dem demnächst ebenfalls verheirateten „Fräul’n Agnes“ geht auch daneben. Michael Scheidl ist ein köstlicher Leicht, der sich in Kreativitätsschüben bzw. in Verzweiflung windet – zwischen lauter verständnislosen „ordinären Dutzendseelen, die der Herrgott packelweis‘ erschafft“. Echtes Vergnügen bereiten Nestroys farbkräftige Sprachbilder. Kein Wunder, dass Helmut Qualtinger dieses Stück besonders mochte. Engagiert und überzeugend ist das ganze Ensemble bei der Sache. Hervorzuheben sind vielleicht Bella Rössler, Susanne Urban, Bruno Reichert. Dass der Gesang nicht immer astrein ausfällt, stört bei so viel Schwung nur wenig. Mittendrin findet sich eine messerscharf gereimte Persiflage auf die „Seitenblicke“-Gesellschaft, bei der auch Hump und Dump nicht fehlen dürfen. Ein amüsanter Abend in stimmungsvollem Ambiente. Warm anziehen! (Veronika Trubel)

Die Furche, 6. Juli 2000: Beißende Parodie

Ein besonderes Juwel bieten heuer die Nestroy-Spiele Schwechat: Johann Nestroys Posse „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“. 1835 als Parodie auf ein schwülstilstiges Melodram um einen verkannten Dichter des längst vergessenen Autors Karl von Holtei entstanden, verarbeitete Nestroy in ihr auch seine Wut über das Theaterpublikum, das ihn im Vorjahr ausgebuht hatte. Mit seinem Dichter Leicht treibt er das verkitscht Bild des Künstlergenies auf die Spitze. Dieser verlässt aus Gram über seinen Misserfolg die Stadt, fristet als Straßenmusiker sein Dasein. Als er nach Jahren zurückkommt, muss er feststellen, die Wiener strömen in sein einst verspottetes Stück, weil sie glauben, er sei längst tot.

Peter Grubers turbulente Inszenierung nützt Nestroys ungezügelten Ingrimm, witzig aktualisiert, für eine Diagnose heutiger Verhältnisse. Michael Scheidl zeichnet den Dichter Leicht als rauhen zynischen Charakter, der sich der komischen Tragik seiner Situation bewusst ist. Insgesamt beeindruckt das sehr spielfreudige, gut typisierte Ensemble. Unter anderem mit Bruno Reichert, Markus Heller in den Rollen selbstgefälliger Biedermänner und Susanne Urban als des Dichters unerfüllte Liebe. (Annemarie Klinger)

Der neue Merker, August/September 2000: Komödiendienspiele in Niederösterreich „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“

Wo vorne war, ist jetzt hinten. Natürlich bezogen auf den Spielplatz. Ansonsten blieb alles beim Alten. Nestroy verstieg sich nicht bis zum Lorbeer, was er dem Dichter Leicht als Eigenbekenntnis in den Mund legte, dem Michael Scheidl alles Kümmerliche nahm, sondern brachte ihn als dampfenden Berserker zur Explosion.

Wozu sich allerdings Peter Grubers Inszenierung verstieg, kam schon einer veritablen Abmurksung in nächste Nähe. Da werden Figuren dazugeschrieben oder abgeändert. Anstelle des zum Wanderharfenisten herabgekommenen Poeten, der ja einen kulturgeschichtlichen Bezug zu dem Ganzen abgibt, erlebt man einen Keyboarder in der Art des Dröhnblondins names „Toni aus Tirol“. Die Biedermeiergesellschaft wird zu den linsengeilen Monstern, bekannt aus den „Seitenblicken“, umfunktioniert, anstelle eines Quodlibets gibt es zu Rossinis Figaro-Arie ein Bongotrommeln malträtierendes Insiderungeheuer.

Diese Stilistik ist ein abendfüllendes Ärgernis. Noch dazu, wo die hier tagende „Internationale Nestroy-Gesellschaft“ zu all diesem Unfug amikal ihren wohlwollenden Sanctus beisteuert. Dabei – und das ist das kaum Glaubliche – langweilt man sich in keinem Moment, alles hat Tempo, Verve und Witz, wenngleich die Sexualkomplexe Grubers bereits Anzeichen des Manischen aufweisen. Wo immer es unpassend ist – bei Nestroy permanent – wird mit Feuereifer ein Verfremdungsszenario, zwecks Ausübung des Koitierens im kleinen Kreis wie auch als Gruppensexevent konstruiert.

Und die Würdevollen, aus den Weiten des Globus harangereisten „Nestroyaner“ sind davon noch entzückt. Da Gruber andererseits sein Handwerk beherrscht und hier niemand anderer regiemäßig zum Zuge kommt, so gelang es im Laufe der Zeit, aus den Amateurschauspielern teilweise Leistungen herauszuholen, welche sich durchaus mit dotationsmäßig bessergestellten Profibühnen messen lassen.

Einzig Markus Heller, als in der einen hochgradigen Komödianten erforderlichen „Schnittling auf allen Suppen“-Rolle des Überall versickerte beständig in den Tiefen der ihm gestellten Aufgabe. Wie man andauernd Stereotypes zu variieren vermag, zeigte unnachahmlich Qualtingers Habakuk. Und das hinreißende Couplet von der Reisesucht in das „herrliche Fischamend“, hier beinahe unbeachtet zerbröselt, wurde bei Meinrad zum unvergeßlichen Pointierungsschrappnell.

Die umfangreiche Musikbeigabe Adolf Müllers ist hierorts ein Problem der eigenen Art. Abgesehen von dem Dazugekochten, paßt die, trotz kenntnisreicher Betreuung durch Kurt Adametz, schaltgepultete Elektronisierung ungefähr so wie die Pathetique zu dem Blues aus Kaisermühlen. (Gerhard Magenheim)

Neue Kronenzeitung, 9. Juli 2000: Nestroys Schickimickis

Künstlerschicksal einst und jetzt: Was Nestroy als Parodie auf romantische Künstlerbilder und als Kritik an Wiens Kulturszene dachte, mag auch heute als Ab- und Zerrbild der Schickimicki-Gesellschaft durchgehen. Nachprüfen kann man’s bei „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“ bei den Nestroy-Spielen Schwechat.

Das Werk, ein Lieblingsstück Helmut Qualtingers, ist zwar nicht aus der ersten Reihe der Nestroy-Erfolge; und das Thema Kultur-Society und Seitenblicke-Gesellschaft ist humoristisch auch schon ziemlich abgegrast. Die Darsteller lassen sich von diesen Schwierigkeiten dennoch nicht entmutigen; aber es braucht eine Weile, bis das Stück anläuft. Mehr bissige Karikatur hätte der Abend vertragen. Doch dann kippt die Situation: Als der zuerst gescheiterte Künstler boomt und seine Schöpfung als Folk-Schunkelnummer im Touristen-Heurigen wiederfindet, bekommt der Abend Drive und Dynamik.

Solide führt Regisseur Peter Gruber das Ensemble – mit Michael Scheidl als zerrissenem Dichter Leicht im Mittelpunkt! Pointierte Leistungen rundum! (OL)

Niederösterreichische Nachrichten, 20. Juli 2000: Großer Erfolg für Schwechats schrill-schräges Theater

Die Seitenblicke haben sich nicht hierher verirrt, und Viktor Klima ist heuer auch nicht gekommen. Man ist bei der Premiere unter sich. Besser so.

Denn auf dem Programm steht mit Nestroys überaus selten gespielter Posse „Weder Lorbeerbaum noch Bettelstab“ eine gnadenlose Abrechnung der geist- und charakterlosen Schicki-Micki-Gesellschaft.

Der Leicht ist ein Dichter; ein bisserl darf er von den Tellern der Reichen und Mächtigen – die seine Werke bestenfalls einschläfernd finden – mitnaschen, er wird von einer Dame sogar sexuell begehrt, doch als er Anerkennung für seine Arbeit fordert, wird er gnadenlos verjagt.

Längst für tot gehalten, kehrt er Jahrzehnte später zurück, nur um festzustellen, dass seine Stücke zu echten Rennern geworden sind. Leicht zieht die Konsequenz – und erschießt sich.

Regisseur Peter Gruber treibt das Geschehen in Nora Scheidls köstlich pointierten Bühnenbildern unbarmherzig voran; die für Schwechat so typisch schrill-schrägen Szenen verdecken nie die menschlich tief berührenden Momente. Eine überaus gelungene Produktion, die mit Michael Scheidl einen wunderbaren Hauptdarsteller und insgesamt ein hervorragendes, exzellent besetztes Ensemble gefunden hat.(Thomas Jorda)