Der Talisman

Neben "Lumpazivagabundus" dürfte "Der Talisman" das meistgespielte Stück Nestroys sein.
Liegt dies an der "Zeitlosigkeit" siner "Botschaft" von der Überwindung des Vorurteils oder an der – auch heute – nicht eingelösten "märchenhaften Utopie" vom "Aufstieg" und der Integration des Außenseiters?

Handelt es sich ums Erreichen des "kleinen Glücks" inmitten einer starren Gesellschaftshierarchie oder um die "stille Revolution" der Rothaarigen, die auch stellvertretend für andere "outcasts" stehen können?

13. NESTROY Spiele Schwechat
Der Talisman

Regie

Peter Gruber

Bühne

Ensemble

Musik

Herbert Ortmayr

Akkordeon

Nikolaus König

Kostüme

Herta Mock, Olga Weinlich

Licht

Alfred Stepan

Ton

Franz Schulcsik

Maske

Heidi Lerner, Regine Fink

Frisuren

Brigitte Bartholner

Hüte

Gertrude Pfertner

Souffleuse

Herta Mock
TITUS FEUERFUCHS ein vazierender Barbiergeselle
Robert Herret
SALOME POCKERL Gänsehüterin
Susanne Urban
FLORA BAUMSCHEER Gärtnerin
Traude Selinger
PLUTZERKERN Gärtnergehilfe
Andreas Bauer
GARTENKNECHTE
Herbert Woller, Alexander Sommer, Stefan Neubauer, Reinhard Charwath
CONSTANTIA Kammerfrau, Witwe
Silvia Hartel
MONSIEUR MARQUIS Friseur
Peter Hartel
SPUND Bierversilberer
Franz Steiner
BURSCHEN
Herbert Woller, Alexander Sommer, Stefan Neubauer, Reinhard Charwath
FRAU VON CYPRESSENBURG Witwe
Gertrude Pfertner
EMMA ihre Tochter
Heidi Lerner
DIENER BEI FRAU VON CYPRESSENBURG
Leopold Selinger, Karl Krumpholz
HERR VON PLATT
Christoph Stepan
GESELLSCHAFT BEI FRAU VON CYPRESSENBURG
Erika Stepan, Elisabeth Müller, Olga Weinlich, Poldi Selinger
NOTARIUS FALK
Ernst Schüller
MÄDCHEN
Manuela Heinzel, Isabella Böhm, Elisabeth Müller

1. Akt
Chor I, 1. – Salome wird von den jungen Leuten im Dorf wegen ihrer roten Haare verspottet. Der gerade im Dorf erschienene rothaarige Titus schimpft seinerseits in einem Lied auf alle, die ihn wegen seiner roten Haare als Außenseiter behandeln. – Lied Titus I, 5 (R: „Drum auf d’ Haar muß man geh’n, / Nachher trifft man’s schon schön.“). – Er trifft auf Plutzerkern, der ihn für den neuen Gehilfen von Flora hält. Tatsächlich ist Titus an dieser Stelle interessiert. Salome, die glaubt, in Titus einen Leidensgefährten gefunden zu haben, bietet ihm an, ihm mit Hilfe ihres Bruders eine Anstellung beimBäckermeister zu besorgen. Doch der Meister möchte keinen Rothaarigen anstellen. Als Titus das durchgegangene Pferd eines Reisenden, des – nicht adeligen – Friseurs Monsieur Marquis, einfängt, schenkt dieser ihm zum Dank für seine Rettung eine schwarze Perücke, als Andenken und Talisman. – Lied Salome I, 15 (R: „Ja die Männer hab’ns gut, hab’ns gut, hab’ns gut!“). – Diese Perücke, die seine roten Haare verbirgt, verhilft Titus zu einer Stellung als Oberaufseher bei Flora, die ihm sogleich den Anzug ihres verstorbenen Mannes gibt, weil sie eine Hochzeit nicht ausschließt. Aber auch Constantia findet sofort Gefallen an Titus, besonders wegen seiner schwarzen Haare. – Chor I, 23.

2. Akt
Chor II, 1. – Titus ist von Constantia als Jäger eingestellt worden und trägt nun den Anzug ihres verstorbenen Mannes. Außerdem läßt Constantia erkennen, daß sie Titus heiraten möchte, wodurch ihm eine Stellung als Jäger sicher wäre. Salome erscheint, auf der Suche nach dem rothaarigen Jüngling. Als sie Titus erkennt, fällt sie in Ohnmacht, verrät ihn aber nicht. Constantia ist wegen der heftigen Reaktion Salomes mißtrauisch geworden, doch Titus kann ihre Bedenken zerstreuen. Der Friseur, mit dem Constantia eine heimliche Beziehung unterhält, erscheint. Auch er erkennt Titus, doch auch er schweigt. Als Constantia fort ist, droht er Titus für den Fall einer Beziehung zwischen ihm und Constantia mit dem Verrat seines Geheimnisses. Kurz darauf hört der Friseur, wie Titus im Schlaf von Constantia spricht, und nimmt ihm unbemerkt die Perücke weg. Durch die Ankunft von Frau von Cypressenburg wird Titus geweckt und bemerkt den Verlust seiner Perücke. Ohne auf die Farbe zu achten, greift er sich eine andere Perücke und erscheint mit blonden Haaren vor Frau von Cypressenburg. Auch ihr gefällt der charmante, blonde Jüngling. Sie stellt ihn als Sekretär ein und gibt ihm den Anzug ihres verstorbenen Mannes. Um sich vor Entdeckung zu schützen, berichtet Titus Frau von Cypressenburg von der heimlichen Beziehung zwischen Constantia und dem Friseur und von dem Heiratsantrag, den Flora ihm gemacht hat. Sie veranlaßt sofort die Entlassung aller drei. – Lied Titus II, 22 (R: „Ja, die Zeit ändert viel.“). – Chor II, 23. – Gerade als Frau von Cypressenburg Titus ihrer literarischen Gesellschaft vorstellt, erscheinen Flora und Constantia, um sich über ihre Entlassung zu beschweren. Beide beharren darauf, Titus als schwarzhaarig zu kennen. Schließlich erscheint der Friseur und enthüllt das Geheimnis. Zum Entsetzen aller zeigt Titus seine roten Haare. – Chor der Gesellschaft II, 27.

3. Akt
Titus wurde aus dem Schloß gejagt und muß nun auch noch den Anzug zurückgeben. Salome trifft unterdessen Spund, den Onkel und einzigen Verwandten von Titus. Spund ist wegen Titus’ roter Haare nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen. Spund selbst ist durch Erbschaften zu Geld gekommen und möchte Titus durch die Übergabe eines Geschäftes eine gesicherte Existenz ermöglichen, um somit jegliche Beschädigung der Familienehre zu verhindern. Als Spund hört, daß Titus als Bedienter auf dem Schloß arbeitet, eilt er sofort dorthin, um ihn aus dieser unrühmlichen Beschäftigung zu befreien. Nachdem man im Schloß von Titus’ reicher Verwandschaft erfahren hat, schickt man sofort nach ihm. Der ahnungslose Titus setzt für den Gang zum Schloß die alte graue Perücke des verstorbenen Gärtners auf. In der Zwischenzeit hat jedoch Flora Plutzerkern beauftragt, die Perücke zurückzuholen. Als Georg Flora von Titus’ reichem Onkel erzählt, möchte sie Titus trotz seiner roten Haare heiraten. – Quodlibet-Terzett Titus, Flora, Salome III, 11: über die Hoffnungen der Liebe. Auch die von dem Friseur verlassene Constantia hofft wieder auf Titus. Ebenso wie Flora und Constantia findet auch Frau von Cypressenburg rote Haare, wenn sie zu einem reichen Mann gehören, gar nicht mehr scheußlich. – Lied Titus III, 16 (R: „Na, da hab’ i schon g’nur.“). – Titus trifft mit seiner grauen Perücke auf Spund und macht diesem weis, daß er aus Kummer über das Verhalten seines Onkels in einer einzigen Nacht ergraut sei. Spund ist so gerührt, daß er Titus auf der Stelle zu seinem Alleinerben einsetzt. In diesem Moment erscheint Salome und fordert, den Auftrag Plutzerkerns ausführend, die graue Perücke zurück. Titus zeigt seine roten Haare. Frau von Cypressenburg rettet die Situation, indem sie mit Gewißheit behauptet, daß Spund von Anfang an von der Perücke wußte. Titus schlägt jedoch sowohl das Erbe als auch die Heiratsanträge von Constantia und Flora aus, die es nur auf sein Geld abgesehen hatten. Er wird Salome heiraten und mit Spunds Hilfe ein Geschäft eröffnen. Titus: „Ich weiß Herr Vetter die roten Haar mißfallen Ihnen, sie mißfallen fast allgemein, warum aber, weil der Anblick zu ungewöhnlich is, wenn’s recht viel gäbet käm’ die Sach in Schwung, und daß das geschieht, wollen wir das unsrige beitragen […]“

Aus dem „Nestroy-Schauspielführer“ von Jürgen Hein und Claudia Meyer, Verlag Lehner

Original-Stückfassung | Historisch-kritische Ausgabe (HKA 17/I Jürgen Hein, Peter Haida)

Wiener Zeitung, 5. Juli 1985: Eine Ballade vom Außenseiter

Über Nestroys Werke ist schon oft gesprochen, ihre Bedeutung diskutiert worden. Regisseure lasen manches heraus, interpretierten vieles hinein. Eines aber ist sicher: Nestroy war ein Moralist. Er trat ein für die Schwachen, die Unterdrückten, die Ausgestoßenen, die Außenseiter. Die „Ballade vom Außenseiter“ könnte man so wohl auch seine gar nicht so lustige Posse „Der Talisman“ nennen. Ihre Protagonisten sind bekanntlich zwei Menschen, die rote Haare haben und darob von allen gemieden und der verschiedensten schlechten Eigenschaften angeklagt werden. Freilich sind diese roten Haare ein Symbol, es könnte alle mögliche andere sein: Rasse, Klasse; Nationalität,…

Peter Gruber inszenierte im wunderschönen Hof von Schloß Rothmühle mit der Schwechater Laiengruppe für die heurige Sommerspielsaison dieses besonders klare und aussagekräftige Stück Nestroys. Er versuchte nicht viel zu deuteln, er läßt Nestroy für sich sprechen. Und er hatte das Glück, für die Hauptrolle, den Titus Feuerfuchs, einen besonders begabten Darsteller zu finden. Ein Naturtalent? Jedenfalls ist Robert Herret seiner Aufgabe vollauf gewachsen. Er ist souverän, scharf und hintergründig, man glaubt ihm die guten und die schlechten Eigenschaften dieses Burschen.

Mit Herret hat Regisseur Gruber wirklich einen Haupttreffer gemacht. Auf ihn kann man eine Inszenierung aufbauen. – Erstaunlich gut und von starker Persönlichkeit ist aber auch die Salome Pockerl des Abends: Susanne Urban. Kein herziges „Gänselieserl“, sondern eine, die schon viel Schweres durchgemacht hat.

Rund um die beiden schart sich ein ambitioniertes, diszipliniertes, präzises Ensemble, aus dem Traude Selinger, Silvia Hartel, Gertrude Pfertner, Heidi Lerner, Andreas Bauer, Peter Hartel und Franz Steiner besonders hervortreten. Sehr gut ist auch die Ausstattung (Herta Mock, Olga Weinlich). (Lona Chernel)

Arbeiterzeitung, 5. Juli 1985<: Nestroy ist ein Abenteuer wert

Ja, die Zeit ändert viel. Nestroy ist heute, sei es die Gruppe 80 oder am Spittelberg, für etliche sommerliche Abenteuer gut. Noch vor wenigen Jahren war eilige Flucht angezeigt, wenn irgendein Provinzprinzipal in einem Dorf einritt, um Nestroy der mißbräuchlichen Verwendung als Fremdenverkehrswurstel zuzuführen. Die Nestroy-Spiele in Schwechat waren schon damals eine Ausnahme. Was der Regisseur Peter Gruber (er inszeniert im Herbst am Volkstheater) mit einer Laiengruppe zustande gebracht hat, ist beinahe exemplarisch in seiner vorstädtischen Armut, seinem kantigen, aber nicht banalisierenden politischen Witz und – erstaunlich – seiner sprachlichen Präzision. Im Amateurensemble St. Jakob finden sich heute, dank Grubers beharrlicher Aufbauarbeit, einige Schauspieler an der Grenze zur Professionalität, die sich gleichwohl nicht als Staatstheaterimitatoren gebärden.

Daß man sich heuer an den „Talisman“ wagt, ist das Ergebnis eines nicht unberechtigten Selbstbewußtseins. Immerhin ist dieses Werk ein Hit und (im Guten wie im Bösen) mit Aufführungsgeschichte reich beladen. In Schwechat hat man einen durchaus konkurrenzfähigen Titus (Robert Herret) und eine erstaunliche Salome Pockerl (Susanne Urban) zur Hand. Man kann Gärtnerin, Kammerfrau und Gnädige achtbar und den Bierversilberer Spund (Franz Steiner) sogar luxuriös besetzen. Gleiches war manchem hochdotierten Staatstheater-„Talisman“ der letzten Jahre nicht nachzurühmen.

Gruber verliert sich nicht in Zwischentönen und Ausgeklügeltheiten. Er weiß, wie er seinem Ensemble das Beste abtrotzt. Spund, dessen einfältiges Haupt mit Vorurteil, falscher Sentimentalität und garstigen Biedermeierfloskeln vollgerammelt ist, tritt als Karikatur eines Hahnenschwänzlers auf. Das ist eine ebenso klare wie vergnügliche politische Aussage, ohne daß die schon nicht mehr erträglichen Proletarier in den blauen Arbeitshosen bemüht werden müßten. Die Dekadenz im Haus der Frau von Cypressenburg zwingt Gruber mit einem auch ästhetisch reizvollen Kunstgriff: Die Gäste, allesamt bereits im Zustand des Zerfalls, werden als Tableau auf die Bühne geschoben und mittels einer Kurbel in knarrende Bewegung gesetzt.

Seit Jahren gehen Gerüchte, die Nestroy-Spiele (samt begleitendem hochrangig besetztem Symposium) seien in ihrem Bestand gefährdet. Um einmal ganz deutlich zu werden: Sperrt lieber ein halbes Dutzend anderer niederösterreichischer Festivals zu. Aber nicht dieses.(Heinz Sichrovsky)

Die Furche, 12. Juli 1985: Noch Laien?

Es spricht für die Schwechater Laienspieler – sind das noch Laien? –, daß sie es sich leisten konnten, den Teilnehmern der Nestroy-Gespräche eine Video-Aufzeichnung der exemplarischen „Talisman“-Produktion der Gruppe 80 zu zeigen. Selbstverständlich geriet Peter Grubers Schwechater Inszenierung etwas konventioneller; mit dem meisten, was da in Sachen Nestroy im Sommer rundum kreucht und fleucht, kann sie sich noch lange messen.

Robert Herret hat das Aufsässige, Aufmuckende, auch die im Streß des Aufstiegs durchbrechende Niedertracht für den Titus, und Susanne Urban (Salome Pockerl) ist ihre Fahrlosigkeit losgeworden. Man muß schon sehr hoffen, daß alles geschieht, um das Schwechater Team zusammenzuhalten. (H. B.)

Volksstimme, 4. Juli 1985: Vom Platzen der Illusion

Für Nestroy-Liebhaber – und nicht nur für solche – gelten die Spiele auf Schloß Rothmühle in Schwechat-Rannersdorf seit Jahren als „Geheimtip“: Nestroy wird dort vom ambitionierten Amateurensemble Sankt Jakob unter der Regie von Peter Gruber in lebendigem und unbekümmert-frechen Spiel auf die Bühne gebracht. Kein verbiedermeierter Nestroy, wie er so gerne an den Staatstheatern und im sommerlichen Theaterbetrieb der Fremdenverkehrsgemeinden gepflegt wird.

Die Illusion vom Aufstieg des rothaarigen Außenseiters Titus Feuerfuchs, der durch Anpassung meint, es sich richten zu können, bis die Illusion platzt, wird vor dem Zuschauer plastisch ausgebreitet, mit viel Lust am Spiel.

Robert Herret als Feuerfuchs bedient sich virtuos immer gerade jener Sprache, die als Schlüssel für den Aufstieg in die jeweilige soziale Schicht notwendig scheint – doch der Schein trügt: Selbst perfekteste Anpassung, selbst ein „Talisman“ vermag die sozialen Schranken nicht zu überwinden. Was da helfen würde, dazu fehlt dem arbeitslosen Feuerfuchs in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch die Einsicht.

Peter Gruber freilich hilft dieser Einsicht nach, indem er Nestroy versöhnlichen Possenschuß bricht: Feuerfuchs verläßt nach dem Platzen seines sozialen „Aufstiegs“ die Bühne.

Die Aufstiegsillusionen werden auch vom Bühnenbild, das eine Gemeinschaftsarbeit der Gruppe ist, augenfällig unterstützt: Die mit Graffiti-Sprüchen übersäte Wand wird mit Fortdauer des Stücks geöffnet und der Blick richtet sich von der „No Future“-Generation zunehmend auf die einzelnen Sozialschichten. Eine einfache, aber ungemein wirkungsvolle Lösung.

Besonderes Augenmerk legt die Inszenierung auf die Herausarbeitung der Entfremdung und die dadurch bedingte formelhaft Sprache, die die zwischenmenschlichen Beziehungen im „Talisman“ kennzeichnet. Und schließlich wurde die Erstarrung eines gesellschaftlichen Systems großartig szenisch dargestellt, in dem die Herrschenden zu aufziehbaren Marionetten verkommen und der nachdrängende „Geldadel“ bereits den Weg zum Spießbürgertum eingeschlagen hat. Der Anflug eines Hitlerbartes beim Bierversilberer Spund (Franz Steiner) weist bereits selbst darüber hinaus …

Daß in diesem Stück die Frauen den schlechteren Part zugewiesen bekommen, mag an der französischen Vorlage liegen – in Schwechat wird selbst dieser „Mangel“ nicht frauenfeindlich genützt, sondern zur Abgrenzung sozialer Stellung bezogen. Susanne Urban in der Rolle der Salome Pockerl trifft die feine Grenze zwischen Wissen um das verlogene Handeln der Herrschenden und ihrem eigenen Lebensanspruch hervorragend.

Insgesamt wieder eine sehenswerte Produktion, die vor allem durch die Geschlossenheit des Ensembles lebt und deutlich macht, was kollektive Anstrengung fürs Theater bedeuten kann: das Erfolgserlebnis, ein fortschrittliches Stück Theaterarbeit geleistet zu haben. (Hans Ronberg)

Kurier, 5. Juli 1985: Schrille Pfiffe zur müden Leier –
Schläfriger „Talisman“ bei den Nestroy-Spielen in Schwechat

Sommertheaterzirkus des österreichischen Fremdenverkehrspraters: Da ist Nestroy als wienerische Folklorenummer von jeher beliebter Dressurakt; der bitterböse Satiriker als harmlose Biedermeiergaudi mit zwei bis drei scheinfrechen Gstanzln.

Die Nestroy-Spiele von Schwechat haben sich bisher von derlei Lammfrömmelei meist wohltuend abzusetzen gewußt. Heuer gelingt ihnen das nicht mehr so gut. Und ausgerechnet mit der genial giftigen Außenseiterkomödie „Der Talisman“.

Zwar entpuppt sich Regisseur Peter Gruber nicht grad als biederer Meier, aber wenn er das müde Leierkastenspiel einer schläfrigen Aufführung ein paarmal mit kritisch schrillen Pfiffen weckt, gibt das noch immer keinen munteren Theaterabend. Ausgerechnet „Der Talisman“, diese an roten Haaren herbeigezogene, rasante Farce von Aufstieg und Fall arschkriecherischer Karrierismus, von entlarvter Heuchelei und dummdreistem Vorurteil, mißlingt den Schwechatern zum langweiligen Pflichtklassiker.

Ein paar gute Ideen immerhin. Die spinnbewebten, mechanischen Puppen einer Gesellschaft der Frau von Cypressenburg sind nicht neu, aber witzig. Aber schon die absichtsvoll falschen Töne, vom Gegenwind im Schloßhof Rothmühle oft verblasen, sind unglaubwürdig – auch unabsichtlich wird falsch gespielt.

Vor düsterem Hintergrund holpriger Bühnenbilder bewegen sich manche Darsteller in stumpfen Kostümen wie in Tarnfarbe. Nicht nur durch seinen Rotschopf leuchtet Robert Herret. Sein Titus Feuerfuchs ist weniger liebenswert als stimmiges Charakterporträt. Auch die anderen Laientheaterprofis im Ensemble enttäuschen nicht. (Rudolf John)

Neue Kronenzeitung, 5. Juli 1985: Schabernack und Wehmut

Die Nestroy-Spiele auf Schloß Rothmühle sind längst ein Fixpunkt im ländlichen, in den kommenden Wochen hoffentlich milden Theatersommer. Der Andrang des kultur- und frischlufthungrigen Publikums war enorm. Und Nestroys Posse „Der Talisman“ wurde von Regisseur Peter Gruber mit untrüglichem Gespür für Publikumswirksamkeit aufbereitet.

Und das scheint mir in dieser Theatersaison, in der Nestroy allzu oft mit plumpen Gags und mit dem Dreschflegel über die Bretter gejagt wurde, ohnedies eine Seltenheit. Das gesellschaftskritische Ritual, das Nestroy seine eitlen Kreaturen um den rothaarigen Außenseiter Titus Feuerfuchs inszenieren läßt, wurde von Peter Gruber und dem überzeugend einheitlichen Ensemble in einer unspektakulären, mit fröhlichen Witzchen garnierten Produktion vorgezeigt. Sie unterhält den Zuschauer und läßt ihn trotz der kühlen Abendluft „mitgehen“ – um so mehr als die Dialoge mit netten Regieeinfällen garniert sind und Nestroys Figuren sich von Pointe zu Pointe hanteln.

Robert Herret erspielt sich als „rotkopferter“ Titus im Schnellgang bemerkenswerten Abstand zum übrigen Ensemble. Ein Original, das die Zwischentöne in Melancholie und Wehmut wie in dreister Boshaftigkeit hervorkehrt. Susanne Urban balanciert gefühlvoll zwischen herziger Naivität und verstecktem Schabernack. Ein Lob den übrigen. (Konrad Kramar)

Niederösterreichische Nachrichten, 10. Juli 1985: Gratwanderung zwischen der Posse und Gesellschaftskritik geglückt

Noch taghell ist es im Schloßhof. Draußen vor der Rothmühle blasen die Götzendorfer und die Stadtmusik einen Marsch. Scharenweise strömen die Leute herbei, die Uhr rückt näher auf halb neun, Nervosität und Hektik bei den Akteuren, noch schnell ein paar hastige Züge an der Zigarette. Das Premierenpublikum faßt Decken aus, die Glocke wird zum letzten Mal geläutet.

Das gehört schon zum Spiel. Nestroys „Talisman“, diese Anklage gegen das Vorurteil und die Kritik an einer verkrusteten, in Konventionen erstarrten Gesellschaft, trifft den Nagel auf den Kopf. Die Spießbürger in den Reihen lachen über die Spießbürger auf der Bühne. Was als Kritik des seligen Johann Nepomuk an seiner Zeit konzipiert war, erweist sich als aktuell.

Aber, das liegt wohl daran, daß das Thema vom „Außenseiter“ und dessen „Aufstieg“, von seiner Integration in die Gesellschaft „zeitlos“ ist. Die „Rothaarigen“ von heute sind Gastarbeiter, Behinderte … Was gezeigt wird, ist, daß Vorurteil Blödsinn ist. Wichtiger jedoch, daß die Gesellschaft verkrustet ist, verhaftet in starren Traditionen, unfähig der Öffnung und Wandlung. Ein System, in dem jeder seinen Platz zugewiesen bekommt. Titus (Robert Herret) bekommt die Chance, aufzusteigen in dieser Gesellschaft – sein Schlüssel – der „Talisman“ – ist eine schwarze Perücke, sie ebnet den Weg, sie bricht die Regeln.

Seine Anpassung ist aber gleichzeitig Identitätsverlust. Nach oben buckelnd, nach unten tretend, schreitet er die Karrierestufe hinauf. Die Gesellschaft wird von Frauen repräsentiert. „Eine verwitwete Gesellschaft als Symbol für die Erstarrung“, so Peter Gruber, „geteilt in Arbeiter, Bürger und Adel.“ Über die Gärtnerswitwe (Traude Selinger) und die Kammerfrau (Silvia Hartel) bricht Titus in die sorgsam gehütete und verteidigte Ordnung ein. Schon hier ist er nicht mehr gerissen und bedacht, längst ist er zum Gefangenen geworden. Oben angekommen, will er sich seiner Mitwisser entledigen. Der „rote Titus“ wird entdeckt und verjagt. Die Rettung scheint der reiche Onkel Spund (Franz Steiner) zu sein. Mit einem reichen Bierversilberer zum Onkel verzeiht die Gesellschaft selbst rote Haare, als Universalerbe ist Titus sogar eine gute Partie. Spund, der Repräsentant des neuen Geldadels, der sich von der feudalen Ordnung emanzipiert hat, ist gleichzeitig die Wende zum Spießbürger. „Eine Figur, mit der ich nie viel anfangen konnte, die eigentlich nur dumm war“, so Gruber, „die aber in die Inhumanität geführt hat.“ Nicht von ungefähr hat Spund Ähnlichkeit mit A. H.

Titus bleibt sich letztendlich treu, er bekennt sich zu seinen roten Haaren, selbst die Erbschaft nimmt er nicht an. Über den Umweg der Selbstverleugnung findet er zu sich und Salome (Susanne Urban). Sie war anfangs chancenlos, da sie nichts zu bieten hatte als ihre Liebe.

Doch das gute Ende sollte nicht über die Botschaft hinwegtäuschen. Jürgen Hein schreibt dazu treffend, „es bleibt ein Moment des Ungelösten, ein historisches „Noch-Nicht“, es bleibt als – auch heutige – Aufgabe, Diskriminierung als gesellschaftliches Verhalten zu begreifen.“

Darüber hinaus gilt es, die Verkrustungen der modernen Gesellschaft zu lösen. Was die Erstarrung in Klassen im vorigen Jahrhundert bedeutet, ist heute anders gelagert. Die Rechte der Minderheiten, der Entrechteten, der sozial Schwachen … sollte uns angelegen sein. In den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen gibt es „Erstarrungen“, die existenzbedrohend sind. Rein auf Wirtschaftlichkeit bedachtes Denken bescherte uns die Umweltprobleme. Das Festhalten am Frieden durch Abschreckung bescherte uns die Atomwaffenarsenale. Politisch ist die „direkte Demokratie“ noch mehr Schlagwort als Realität. Das sind nur ein paar Schlagworte zu den Verkrustungen der heutigen Gesellschaft; eine „Wende“ ist hier fällig, in Ansätzen zumindest schon sichtbar.

Soviel zum Inhalt und seiner Interpretation. Darüber, ob man es „lustig runterspielen soll“ oder das sozialkritische Element betonen soll, ist dann tags darauf in der Rothmühle akademisch debattiert worden.

Peter Grubers „Gratwanderung“ zwischen der Nestroyschen Posse und der Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung mit ihrer Inhumanität ist geglückt.

Ein anfangs ein wenig steifer Robert Herret läuft zur Hochform auf, ein stimmiges Charakterbild des Titus. Wunderbar aufeinander abgestimmt die Darstellung der drei Witwen: Traude Selinger als resolute Gärtnerin, Silvia Hartel als ein wenig versnobte Kammerfrau und Gertrude Pfertner als sich intellektuell gebende Herrin. Andreas Bauer mimt den Plutzerkern. Lustig und bissig seine Einlage als „gestandener Gewerkschafter“.

Die Verkörperung des Spunds als selbstherrlicher Neureicher, die Inkarnation des Spießbürgers, der in seiner Einfalt auch noch Größe sieht, gelingt Franz Steiner ausgezeichnet.

Die Ganslhüterin Salome mimt Susanne Urban, sie ist mehr Getriebene als Handelnde. Die Wildheit, ihr Aufbegehren kommt nur phasenweise zur Geltung, sie hat sich der Gesellschaft untergeordnet. Susi Urban spielt diesen Part überzeugend.

Drumherum eine gute Ensembleleistung. Da fehlt es Peter Gruber nicht an Gags, um das Lustige – „die Komik wurzelt im Sozialen, Gesellschaftlichen“ – hervorzustreichen. Da fehlen nicht die frechen G’stanzeln.

Im Zusammenspiel zwischen Regisseur und Ensemble haben sich die Nestroyspiele in den Jahren ihres Bestehens einen guten Ruf erworben: Als Amateurbühne, die ernstzunehmendes Theater spielt. Das gilt auch für den „Talisman“. (Wolfgang Wieser, Christian Gutlederer)

Schwechater Rundschau, 3. Juli 1985: Vom Scheitern des „kleinen Glücks“

Die „Jakobiner“ stellen heuer Nestroys „Talisman“, das wohl bekannteste Stück des Meisters des Wiener Volkstheaters neben dem „Lumpazivagabundus“, auf die Bühne im Schloßhof der Rothmühle. Und rücken dem Vorurteilsstück auf ihre bewährte Weise auf den Pelz: frech, unbekümmert, kraftvoll und lebendig. Fernab jeder so gern gepflegten Verbiedermeierung wird akuter und brisanter Nestroy auf die Bühne gestellt, wobei man die Spielfreude des Amateurensembles sinnlich miterlebt. Ein Labsal inmitten sommerlichen Theaterschwachsinns im Umland …

Peter Gruber, Hausregisseur der Nestroy-Spiele, inszenierte aktuell: Ohne auf modischen Schnickschnack einzugehen, hebt er die Aussagen des „Talisman“ auf klare Weise hervor, ohne auf den Schmäh zu verzichten.

Die Illusion vom Aufstieg des rothaarigen Außenseiters Titus Feuerfuchs, der meint, es sich durch Anpassung richten zu können, bis die Illusion zerplatzt, wird vor dem Zuschauer plastisch ausgebreitet, mit viel Lust am Spiel. Und die Mechanismen dieses „kleinen Glücks des Integrierens in die Gesellschaft“ werden bloßgelegt.

Robert Herret als Feuerfuchs erhält hilfreiche Unterstützung vom Bühnenbild, das eine Gemeinschaftsarbeit (verantwortlich Franz Steiner) ist: Die mit Graffiti-Sprüchen verzierte Wand (so etwas steht zum Beispiel auch auf den Rennbahngründen) gibt mit Fortdauer des Stücks den Blick auf das Innenleben der (damaligen) Gesellschaft frei. Die Glückspforte öffnet sich parallel zum vermeintlichen Aufstieg des Outcasts Feuerfuchs. Eine kongeniale Lösung. Herret löst – wie immer – die schwierige schauspielerische Leistung der Täuschung und Selbsttäuschung, bei Nestroy als Grundmuster immer anzutreffen, überzeugend:

Sein mit frecher Begeisterung gespielter Feuerfuchs braucht keinen Vergleich zu scheuen. Er bedient sich virtuos der formelhaften Sprache, um seinen Aufstieg zu sichern. Zugleich wird jenes Maß an Entfremdung sichtbar, das am Beginn der industriellen Revolution dem Volksschriftsteller Nestroy nicht verborgen bleiben konnte und heute ein ungleich höheres Ausmaß erreicht hat.

Daß die Frauen im „Talisman“ die schlechteren Parts zugeschanzt bekommen, liegt wohl an der Vorlage zum Nestroy-Stück. In der Schwechater Inszenierung besteht ihr Vorzug darin, daß Gertrude Pfertner (Frau von Cypressenburg), Silvia Hartel (Constantia), Traude Selinger (Flora Baumscheer) und Susanne Urban (Salome Pockerl) stellvertretend ihre sozialen Schichten glaubhaft spielen. Wobei Gertrude Pfertner so gut wie seit langem spielt …

Ambivalente Rollen besetzen Franz Steiner (Bierversilberer Spund), der mit einem Anflug von Hitler-Bart bereits ein historischer Vorgriff auf Kommendes ist und einen schönen Kontrast zum angestammten verrotteten Adel gibt.

Und schließlich Peter Hartel als Friseur, der eine andere, durchaus auch heutige Minderheit in sein Spiel einbezieht.

Köstlich Andreas Bauer (Plutzerkern), der die undankbare Aufgabe hat, Originalaussagen des Hainburg-Fans und SPÖ-Multifunktionärs Kerschbaum „sozialpartnerschaftlich“ auf die Bühne zu stellen.

Herbert Woller, Alexander Sommer, Gerhard Fock, Reinhard Charwath, Heidi Lerner, Leopold Selinger, Karl Krumpholz, Christoph Stephan, Elisabeth Müller, Olga Weinlich, Poldi Selinger, Ernst Schüller, Manuela Heinzl, Isabella Böhm vervollständigen die Gruppe, die in ihrer Gesamtheit erst den Erfolg der Nestroy-Spiele seit zwölf Jahren ausmacht.

Herbert Ortmayer hat auch heuer wieder eine Musik beigesteuert, die Nestroy auf vielfache Weise „bricht“ und von Nikolaus König behutsam interpretiert wird.

Fazit: Hingehen und ansehen. (Günther Stockinger)

Nachrichten der Stadt Schwechat, September 1985: „Der Talisman“ im Schloß Rothmühle

Mit dem „Talisman“ griff das Ensemble St. Jakob in diesem Jahr, ähnlich wie 1981 bei der denkwürdigen Aufführung von „Freiheit in Krähwinkel“, bewußt ein „heißes Eisen“ an. Regisseur Peter Gruber gestaltete das Spiel von Titus Feuerfuchs und seiner Salome Pockerl weg vom Possenhaften, obwohl Nestroy auch Werke mit tiefgründigen Anspielungen als Posse bezeichnete, zu einem mit Schärfe gewürzten Minderheitenstück. Es gelang ihm auch, aus den „Jakobsspielern“ ein Höchstmaß an schauspielerischen Schwung, Tempo und textlicher Klarheit herauszuholen. Wie bei den meisten seiner Stücke, strotzt auch diese „Posse“ von Anspielungen auf die Gegenwart von 1840, auf die Unterdrückung ausgefallener Minderheiten und auf die Verstellung im Diente einer in Schablonen erstarrten Gesellschaft. Dabei bricht aber immer wieder das saftige echte und unmittelbare Leben durch.

Es gibt „alte Theaterhasen“, die abseits von germanistischen oder theaterwissenschaftlichen Auslegungen behaupten, Nestroy habe in erster Linie an die Theaterwirksamkeit seiner Stücke gedacht und vor allem auch an schöne, große Rollen, die er in fast allen seiner Werke für sich selbst schrieb. Er hat auch wiederholt geäußert, daß er sich in erster Linie als Schauspieler fühle und das Verfasse von Theaterstücken sozusagen als Nebenwerk betrachte. Das mag schon stimmen, vom Standpunkt eines Schauspielers und späteren Direktors einer großen Bühne. Er hat aber, vielleicht unbewußt, sein ganzes Zeitalter mit all den Verzopft- und Borniertheiten des metternichschen Polizeistaates in diese Stücke eingebaut und viele Jahrzehnte später von Wissenschaftern publizierte Theorien der Psychologie, in diesem Fall des „Minderwertigkeitskomplexes“ und der „Überkompensation“, vorweggenommen. Was ein guter Regisseur aus diesen sprachlichen und szenischen Finessen, die sich hinter der Maskerade von geschickt getarntem Alltagskram verbergen, herausholen kann, bewies der ständige Regisseur Peter Gruber, der mit Walter Mock und Robert Herret zu den tragenden Säulen der Nestroy-Spiele zu rechnen ist. Von den Mitgliedern des Amateurtheaters St. Jakob, die höchste Anerkennung verdienen, seien vor allem Robert Herret, Susanne Urban, Traude Selinger, Andreas Bauer, Gertrude Pfertner, Silvia und Peter Hartel sowie Franz Steiner hervorgehoben. Zahlreiche Ensemblemitglieder waren für zusätzliche Arbeiten verpflichtet. Bühnenbilder und Requisiten stammten vom Ensemble, die Kostüme von Herta Mock und Olga Weinlich, Licht: Alfred Steppan, Ton: Franz Schulcsik, Musik: Herbert Ortmayer, Akkordeon: Nikolaus König, Maske: Heidi Lerner und Regine Fink, Frisuren: Brigitte Bartholner und Souffleuse: Herta Mock. Die Kostüme stellte der Bundestheaterverband zur Verfügung.