Die beiden Nachtwandler

Liebe Nestroy-Freunde!

Manchmal glauben wir es selbst nicht: 12 Jahre lang gibt es sie nun schon – die Nestroy-Spiele in Schwechat.

Aus einem Geheimtip für Nestroy-Experten ist im Laufe der Zeit durch Mundpropaganda und die vielen guten Rezensionen ein bekannter und beliebter Treffpunkt für breite Publikumsschichten geworden.

Heuer zeigen wir ihnen DIE BEIDEN NACHTWANDLER, ein zu Lebzeiten Nestroys sehr erfolgreiches, in unseren Tagen aber eher selten gespieltes Stück. 1836 geschrieben, markierte es – formal und inhaltlich – den Übergang vom Biedermeier zum Vormärz. Es enthält noch alle Elemente des traditionellen Zauber- und Märchentheaters, löst aber zugleich auf und kontrapunktiert sie mit harter Sozialkritik.

Es ist ein Stück voller witziger Einfälle uns sarkastischer Bemerkungen, die unter die Haut gehen.
Ein echter Nestroy!

12. NESTROY Spiele Schwechat
Die beiden Nachtwandler

Regie

Peter Gruber

Bühne

Ensemble

Kostüme

Herta Mock, Olga Weinlich

Musik

Herbert Ortmayr

Musiker

Nikolaus König

Technische Leitung

Alfred Stepan, Franz Schulcsik

Maske und Frisuren

Brigitte Bartholner

Requisiten

Traude und Leopold Selinger

Souffleuse

Herta Mock
GRAF VON WACHFELD
Erika Stepan
MALVINA seine Tochter
Sylvia Daniel
GRAF VON HAUERT
Franz Steiner
BEDIENTE
Alfred Pummer, Hannes Gauster, Gerald Gibley, Reinhard Charwath, Hans Christian Polak, Herbert Woller
BRAUTCHOR
Gertrude Pfertner, Grete Seitl, Karin Achernigg
AMTMANN GEYER
Fritz Pfertner
HERR VON BRAUCHENGELD
Georg Wertnik
EMILIE seine Tochter
Heidi Lerner
MATHILDE seine Tochter
Elisabeth Müller
THERES deren Stubenmädchen
Hildegard Lerner
SEBASTIAN FADEN
Peter Wittberger
FABIAN STRICK
Robert Herret
FRAU SCHNITTLING
Traude Selinger
BABETTE deren Tochter
Manuela Hainzl
PUMPF
Leopold Selinger
HANNERL seine Schwester
Susanne Urban
WIRT
Karl Krumpholz
WIRTIN
Gertrude Pfertner
NACHBARN
Isabella Böhm, Poldi Selinger, Heide Winkler
GAUNER
Reinhard Charwath, Hans Christian Polak, Herbert Woller
WÄCHTER
Hubert Rössler, Gerald Gibley

1. Akt
Introduktion I,1 – Als neuer Gutsherr will Howart vor seiner offiziellen Ankunft seinen Besitz und die dort lebenden Leute incognito in Augenschein nehmen. Krall, Schnell, Puff, Fint und Kniff haben davon gehört. Die fünf Gauner haben sich bereits einen Plan zurechtgelegt, um Howart im Wirtshaus zu berauben. Kaum ist Howart eingeschlafen, klettern Krall, Puff und Schnell zum Fenster herein. In diesem Moment erwacht Howart, doch bevor er um Hilfe rufen kann, bedroht Puff ihn mit einem Messer. Für alle unerwartet erscheint der nachtwandelnde Faden am Fenster und erschreckt Schnell so sehr, daß dieser laut schreit. Eilig ergreifen daraufhin alle Gauner die Flucht. Kurze Zeit später meldet der Wirt, daß alle Diebe gefaßt wurden, während Faden, ohne zu erwachen aus dem Fenster klettert. Zu Howarts großer Freude kommt noch seine geliebte Malvina in Begleitung von Wathfield an. Sogleich berichtet Howart, aus welcher Gefahr ihn der Nachtwandler gerettet habe. Aus Dankbarkeit wolle er seinen Lebensretter am nächsten Tag glücklich machen. Wathfield wendet ein, daß er den Mann zwar belohnen, aber trotz seines Reichtums nicht glücklich machen könne. Siegessicher schlägt Howart eine Wette vor: Er wolle Malvina erst heiraten, wenn er seinen Retter „vollkommen glücklich gemacht“ habe. – Auftrittslied Strick I,13 („So viel is einmal wahr und gewiß“) – Nachdem er in Howarts Zimmer gewesen war, ist Faden noch in derselben Nacht in Hannerls Zimmer gestiegen, wo ihn der aufgebrachte Pumpf findet. Der erwachende Faden kann die Situation nicht erklären und Hannerl beteuert ihre Unschuld, doch weder Pumpf und Babette noch Strick glauben ihnen. Pumpf kündigt Faden die Freundschaft, ebenso Babette. Strick trennt sich von Hannerl und will auch seinen Meister verlassen. Er gesteht: „Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab’ mich noch selten getäuscht.“ Faden steht vor dem Nichts, als ihm Howart und Wathfield erscheinen. Wathfield gibt vor, Diener eines höheren Wesen zu sein, das Faden glücklich machen will. Faden brauche lediglich seine Wünsche zu äußern. Freudig versichert Faden, „all’weil am Notwendigsten Mangel gelitten“ zu haben, weshalb er auch nur das Notwendigste verlange, um der „glücklichste Mensch“ zu sein. Sein Wunsch sei „a bißl a menschlich’s Quartier“ und „’s Tag zwei Zwanziger“. Wathfield sichert ihm die Erfüllung seiner Wünsche zu, allerdings nicht, ohne Faden davor zu warnen, jemals das Überflüssige zu verlangen, da er sonst auch das Notwendige wieder verliere. Howart ist sich seines Sieges bereits sicher, aber Wathfield warnt vor voreiliger Freude. – Lied Hannerl I,21 (R: „Das is weiter kein Schmerz / Für ein weibliches Herz“) – Herr von Brauchengeld hofft, daß sich unter dem Gefolge des neuen Gutsherrn zwei Bräutigame für seine Töchter Emilie und Mathilde finden werden. Vor allem müssen die Heiratskandidaten bereit sein, Brauchengelds Schulden zu begleichen, weshalb beide Töchter die Hoffnung auf eine Hochzeit schon beinahe aufgegeben haben. Geyer würde Emilie gerne heiraten, doch der von Brauchengeld verlangte Betrag ist ihm zu hoch. Glücklich hat Faden ein Haus auf Howarts Besitz bezogen. Als er dort Emilie sieht, verliebt er sich auf der Stelle in sie. Gerade hat Geyer seinen Verzicht auf Emilie erklärt, als Faden sich vorsichtig der Familie von Brauchengeld nähert, die ihn für einen Bettler hält. Als Faden stolz auf seine täglichen Einkünfte verweist, verlangt Brauchengeld kurzerhand 10.000 Gulden für die Hand seiner Tochter. Lachend läßt die Familie den verdutzten Faden stehen. Unterdessen hat Strick beschlossen, sich mit Faden zu versöhnen, da er es als seine „heiligste Pflicht“ betrachtet, den Meister auch in guten Tagen nicht zu verlassen. Als er von dem „Schutzgeist“ und dessen Glücksversprechungen hört, rät er Faden, diesen um das erforderliche Geld zu bitten, da diese Hochzeit für Fadens Glück unbedingt notwendig sei. In der Tat erhält Faden die nötigen 10.000 Gulden. Auf der Stelle präsentiert er dem verblüfften Brauchengeld die verlangte Summe. Auch Emilie ist über den unerwarteten Bräutigam sehr glücklich. In der Zwischenzeit hat Geyer seinen voreiligen Verzicht bereut. Als er bemerkt, wer ihm bei Emilie zuvor gekommen ist, ist er außer sich vor Wut. Er argwöhnt, der arme Seiler habe das Geld gestohlen. Brauchengeld gegenüber versichert Faden, er habe die Seilerei lediglich aus „Kurzweil“ und „Liebe zur Kunst“ betrieben. Auch Pumpf hat von Fadens Glück erfahren und ist bereit, sich mit dem ehemaligen Freund zu versöhnen. Hannerl hat gehört, wie Geyer dem Wächter gegenüber von „Einführen“, „Seilerer“ und „Lump“ gesprochen hat. Da sie fest davon überzeugt ist, es sei von Strick die Rede gewesen, will sie ihn warnen. Dieser ist sich jedoch sicher, daß Hannerl auf diesem Weg eigentlich Faden warnen will und weist sie von sich. Um Faden vor dem Zugriff des Amtmannes zu bewahren, gibt Wathfield ihm einen Brief von Howart, der sich direkt an Geyer wendet. Darin droht er diesem mit Entlassung, sollte er bei seiner Ankunft feststellen, daß Faden nicht die größte Achtung entgegen gebracht wurde. Geyer beugt sich dem Willen seines Herrn und bezeugt Faden seine Ehrerbietung. – Quodlibet I,34.

2. Akt
Chor II,1 – Faden hat einen Wunsch nach dem anderen, jedoch ohne, daß etwas überflüssig erscheint. Er wünscht bessere Kleidung für sich und seinen Freund Strick, eine Uhr und einen Ring. Da Brauchengeld sich mit Mathilde und Emilie bei Faden einquartiert hat, braucht er auch für diese eine Ausstaffierung. Zwar beängstigt Emilie der plötzliche Reichtum ihres Bräutigams, doch Brauchengeld besteht auf der Hochzeit. Allerdings kränkt es Emilie, in einem Gartenhaus und nicht in einem Palast zu wohnen. Mathilde hofft für sich auf eine noch bessere Partie. Strick erzählt Theres, Faden und er selbst verfügten über eine „unversiegbare Goldquelle“, die alle Wünsche erfüllen könne. Daraufhin verlangt Emilie von Faden den Kauf des Herrensitzes. Erschrocken verweist Faden auf seine geringen Einkünfte, doch Emilie droht, aus Kummer krank zu werden und zu sterben. Schließlich gibt Faden nach, hat aber Angst vor der Reaktion der „Geister“. Zunächst will Howart den Wunsch abschlagen, doch Wathfield erinnert ihn an sein Wort. Zwar wird Faden von beiden getadelt, aber er bekommt seinen Willen. – Lied Strick II,9 (R: „So is überall halt ein Umstand dabei.“) – Emilie und Faden nehmen das Haus in Besitz, samt der von Emilie verlangten Schimmel. Allmählich kommt Howart seine Wette teuer zu stehen, doch Wathfield weist ihn daraufhin, daß er lediglich warten könne, bis Faden das Überflüssige verlange. Für den Abend erbittet Faden eine große Einladung, die ihm ebenfalls gewährt wird. Pumpf bittet Faden für einen Freund um 500 Gulden, die er erhält, weil es notwendig ist, „einem armen Teufel was Gutes“ zu tun. Pumpf versucht, Strick zu versöhnen. Hannerl beteuert weiterhin ihre Unschuld, und Pumpf verweist auf eine Erbschaft von einigen tausend Gulden, doch Strick lehnt ab. Terzett Hannerl, Theres, Strick II, 17: Die beiden Frauen sind aufeinander eifersüchtig.Chor der Gäste II,18 – Während des Essens stört Faden sich an Wathfields Zopf. Vehement verlangt er das Abschneiden des Zopfes. Darin sieht Wathfield einen überflüssigen Wunsch. Bereits zuvor hatte Howart seine Bedienten auf diesen Fall vorbereitet. Wie Furien erscheinen sie nun von allen Seiten, ziehen Strick und Faden die prächtigen Kleider aus und jagen sie aus dem Haus. – Chor II,20 – Nach wie vor sind Babette und Hannerl unglücklich, ihre Geliebten verloren zu haben. Ebenso verwundert wie alle anderen sehen sie Faden und Strick wieder in ihren alten Anzügen durch die Straße gehen. Außer dem Verlust seines Reichtums schmerzt es Faden besonders, daß Emilie ihn als armen Mann nicht heiraten will. 30 Gulden, um die Strick seinen Meister betrogen hatte, sind beider Besitz. Am nächsten Tag will Faden sich das Leben nehmen. Brauchengeld darf das erhaltene Geld behalten. Somit ist der Weg frei, für eine Hochzeit von Emilie und Geyer. Malvina hat Howart verziehen, ihr Glück so leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu haben. Gerade will Geyer Howart und Wathfield als verdächtige Subjekte festnehmen, als Faden nachtwandlend durch das Fenster steigt. Auf diese Weise wird allen klar, warum er seinerzeit in Hannerls Zimmer entdeckt wurde. Glücklich schließt Babette ihren Geliebten in die Arme. Auch Strick erscheint als Nachtwandler. Da Hannerl ihn vor Erstaunen mit Namen anspricht, erwacht er und fällt in den Schornstein. Nach seiner Rettung gibt Howart sich zu erkennen und erklärt, womit Faden sein Glück verdient hatte. Um ihn doch noch glücklich zu machen, schenkt Howart Faden das durch dessen Übermut verlorene Häuschen, und Wathfield steuert ein kleines Kapital für das Geschäft bei. Auch Strick hat durch sein eigenes Nachtwandeln erkannt, daß er Hannerl unrecht tat, so daß am Ende einige Hochzeiten in Aussicht und den Versöhnungen von Babette und Faden und Hannerl und Strick nichts mehr im Wege stehen. – Schlußgesang Strick mit Chor II,28 („Der Verstand ist das Licht unsers Lebens“).

Aus dem „Nestroy-Schauspielführer“ von Jürgen Hein und Claudia Meyer, Verlag Lehner

Original-Stückfassung | Historisch-kritische Ausgabe (HKA 11 Jürgen Hein)

Profil: Nestroy Spiele 1984

Das Amateurtheater St. Jakob unter der Regie von Peter Gruber, der seit dem Jahre 1973 bei den Nestroy-Spielen für die Inszenierung verantwortlich ist, brachte heuer das am 6. Mai 1836 erstaufgeführte Stück „Die beiden Nachtwandler“, das bis 1856 110mal gespielt wurde. Obwohl Nestroy das Stück eine „Posse“ nannte, sahen spätere Kritiker darin den Beginn der neuen „Volksstück-Phase“ Nestroys und das Ende des Zauberspiels.

Trotz des umfangreichen Personenregisters des Stückes, war es dem Regisseur gelungen, jede Rolle ausgezeichnet und passend zu besetzen. Das Ensemble St. Jakob ist eine Theatergruppe mit Tradition, die seit Jahren immer wider vor allem junge Menschen anzieht, die nach kurzer Erprobung auch wirkungsvoll eingesetzt werden.

Ein weiteres Plus dieser von großem Idealismus getragenen Spielgruppe ist die Bereitschaft, nicht nur mitzuspielen, sondern bei vielen sogenannten „Nebenarbeiten“ mitzutun.

Die Premiere der zwölften Nestroy-Spiele am 6. Juli, die mit der Eröffnung der „10. Internationalen Nestroy-Gespräche“ zusammenfiel, wurde durch die Anwesenheit des Bundespräsidenten ausgezeichnet, der in herzlichen Worten zu den zahlreichen Besuchern sprach und die Gespräche und Spiele eröffnete. Er wurde einleitend von Prof. Walter Mock im Namen des Nestroy-Komitees Schwechat und auch von Bürgermeister Rudolf Tonn begrüßt.

Die Aufführung, wieder unter fantasiereicher Einbeziehung des hinteren Zubaues, ist auch diesmal mit unglaublich geschickten Improvisationen auf kleinstem Raum, in einer „Nestroy-pur“-Regie mit ganz wenigen Tagesaktualisierungen, vortrefflich gelungen. Dazu trug nicht nur die Regieleistung Peter Grubers bei, sondern auch das vom Ensemble selbst gestaltete Bühnenbild und die mit wirklich „traumwandlerischer Sicherheit“ die „gespenstischen Schlafwandlerszenen“ begleitende Musik Herbert Ortmayers, die von Nikolaus König geboten wurde. Die technisch perfekte Leitung besorgten Alfred Stephan und Franz Schulcsik, die Kostüme gestalteten Herta Mock und Olga Weinlich, Maske und Frisuren waren bei Brigitte Bartholner in guten Händen, für die Requisiten zeichneten Traude und Leopold Selinger und die unentbehrliche Souffleuse war mit Herta Mock besetzt. Dankenswerterweise hat wieder der Bundestheaterverband Kostüme zur Verfügung gestellt, teilweise konnte auf den eigenen Fundus zurückgegriffen werden. Für die Leistung der Darsteller, die sich alle, von den Trägern großer Rollen bis zu den Kleinstdarstellern, zu einem wirkungsvollen Ensemblespiel vereinigten, können wir hier nur ein Pauschallob spenden, denn alle waren gut und jeder gab sein Bestes. Die großen Wiener Blätter berichteten positiv und in einigen Fällen sogar begeistert.

Die Presse, 9. Juli 1984: Biedermeierzauber als Wachtraum

In der Schwechater Rothmühle, wo Nestroys Stücke mit dem kräftigen, ungespitzten Griffel des Laienspiels auf die Pawlatschenbühne gesetzt werden, erhalten Wortwitz und burleske Situationskomik etwas von jener ursprünglichen Grobkörnigkeit zurück, die in den routinierten Feinzeichnungen des Berufstheaters häufig bis zur Unkenntlichkeit verwischt ist. In diesem Jahr spielt man„Die beiden Nachtwandler, eine der frühen Possen Nestroys, durch die der Aufruhr gegen die Zwangsidylle des Biedermeiers noch wie ein somnambuler Traum geistert.

Eine uralte Märchenverheißung: daß das Wünschen etwas gegen Armut und Unterdrückung bewirken möchte. Aus dem Täuschungsspiel der Zauberposse macht Nestroy ein Spiel über den Täuschungszauber, mit dem die Biedermeierwelt soziale Wirklichkeit verdeckt. Ein armer Handwerker wird von der ersten Welle der Industrialisierung überrollt: Alle Glücksversprechungen des Wohlstandswunders zaubern die neuen Geldherren für ihn herbei, wenn er nur nicht an das Geheimnis der anonymen Macht rührt, die sich durch materielle Feengaben Herrschaft sichert. Den Aufmarsch des ganzen deklassierten Mittelstandes im hochgerüsteten Metternichstaat provoziert der Wachtraum des Seilermeisters: Geisterstunde des frühindustriellen Systems.

In Peter Grubers Inszenierung wird die milde Ironie, mit der Nestroy die Wundergläubigkeit seiner Zeit, vor allem aber die sozialen Traumwandler des ausgepowerten Vorstadtmilieus beleuchtet, mit kräftigen Konturen in der Personenzeichnung verdeutlicht. Die wundersamen Wohltäter mit der unerschöpflichen Geldschatulle sind keine Abgesandten eines arkadischen Zauberreiches mehr: schwarz und bedrohlich, mit Masken über dem weißgeschminkten Gesicht, geben sie in Haltung und Aufmachung ihre Herkunft aus der sich mit der neuen Massenfertigung arrangierenden Landaristokratie preis. Auch das städtische Bürgertum weiß längst, welche Stunde es geschlagen hat: Der verarmte Rentier namens Brauchengeld verschachert seine Töchter wie ein Großhändler sein Warenlager: Den aufsässigen Charme der Revolte verkörpert in seinem Haus nur mehr das Stubenmädchen.

Ihr so gar nicht larmoyanter Ton der willenstärkenden Desperation trifft sich in dem frischen, unverstellten Spiel der Laiendarsteller mit der tolpatschigen Natürlichkeit, die der unvermutet in scheinbares Glück gestürzte Handwerksmeister und sein noch fürwitzigerer Geselle bei ihrem Zauberabenteuer an den Tag legen: Das Eckige, Kantige, zuweilen auch Linkische, mit dem hier über das Spektakel hinaus Theater als Möglichkeit aufgefaßt wird, unterdrückte eigene Identität im historischen Gleichnis von Identitätsentfremdung freizusetzen, sichert diesem Schwechater Laienspiel seinen besonderen Reiz, der am kräftigsten in den von Herbert Ortmayr neueingerichteten Couplets zum Ausdruck kommt: Volkskomödiantik, beglaubigt durch Spielfreude und Originalität. (voho)

Die Furche, 18. Juli 1984: Ehrenrettung

Das auf Nestroy spezialisierte Laienensemble wird immer besser und sorgt für die Ehrenrettung dieses Theatersommers in Niederösterreich mit seiner bisher unergiebigen Nestroy-Inflation.

Zwei spleenige Lords wetten: Kann man den Menschen glücklich machen, wenn man ihm alle auf Notwendiges gerichteten Wünsche erfüllt? Seilermeister Faden hält sie für mächtige Geister; ausgerechnet der Wunsch, eine Zopf abgeschnitten zu sehen, stößt ihn in die Bedingungslosigkeit zurück. Denkt man an die symbolische Bedeutung des Zopfes etwa in „Freiheit in Krähwinkel“, wird im blitzgescheiten Stück vom Appetit des Menschen, der beim Essen wächst, die handfeste politische Bosheit sichtbar.

Eine gute, lebendige Aufführung mit gestrafftem Text. Schade, daß die Truppe eine Einladung nach Berlin kaum wird annehmen können, da die ministeriale Förderung des Projekts abgelehnt wurde. „Nestroy pur“ auf solchem Niveau sollte nicht dem Hausgebrauch reserviert werden. (Hellmut Butterweck)

Arbeiterzeitung, 10. Juli 1984: Mit feinen Klingen gegen Zöpfe

Es theatersommert, und Zöpfe sonder Zahl werden in Wien und Umgebung aus dem Fundus geholt. Nicht so am Spittelberg und auf dem Schloß Rothmühle bei Schwechat: Dort zückt man feine, scharfe Klingen, um den Zöpfen den Garaus zu machen. Mit ihren Nestroy-Produktionen – „Die beiden Nachtwandler“ in Schwechat und „Freiheit in Krähwinkel“ am Spittelberg – beschämen zwei exemplarische Freiluftunternehmen die großen Bühnen.

„Die beiden Nachtwandler“ ist ein hinterhältiges Stück Literaturktitik: Es verkehrt die Gattung des biedermeierlich vor sich hin zufriedelnden Zaubermärchens ins Materialistische. Die beiden Geister, die nach uralter Komödientradition einen armen Teufel zu Wohlstand, Bankrott und dankbarer Erkenntnis seiner Standesgrenzen verhelfen, sind nichts weiter als vermummte Grafen-Kreaturen. Sie bedürfen keines Zaubers, denn sie gebieten über jeglichen faulen Zauber, den der Feudalismus auszuschütten vermag.

Peter Gruber hat mit dem Schwechater Laienensemble verblüffende Arbeit geleistet. Keine als Profis verkleideten Dilettanten kopieren da Theatertraditionen, sondern ebenso spontane wie disziplinierte Amateure üben sich in exzellenter Selbstpersiflage. Je sicherer sie im Verlauf der Jahre ihrer stilistischen Eigenart geworden sind, desto konsequenter kann Gruber auf vordergründige politische Aktualisierungen verzichten. (…) (Heinz Sichrovsky)

Kurier, 17. Juli 1984: Ein Nestroy voller Satire und Zynismus

„Ein kritischer Nestroy ist noch immer der beste Nestroy“. Unter dieser Devise stehen, wie bereits in den Jahren zuvor, die 12. Nestroy-Spiele in Schwechat. Das Amateurtheater St. Jakob unter der Regie von Peter Gruber spielt heuer „Die beiden Nachtwandler“. (…)

Hier wird nichts verharmlost, nicht die Gesellschaftskritik Nestroys „verbiedermeiert“, sondern die Satire und die Zynik des vielleicht größten österreichischen Dramatikers tritt offen zutage. Ob die Stellung der Frau in der Gesellschaft oder die gewaltigen Klassenunterschiede: Nestroy und die Schauspieler seines Werkes suchen die Konfrontation mit der Gegenwart.

„Die beiden Nachtwandler“ sind demgemäß keine Mondsüchtigen, über die man sich lustig machen kann, sondern: „Der Mensch, bei dem’s allweil schwarz ist im Sack, für den is das Leben dann, sei’s, wie es sei, auch nichts als a b’ständige Nachtwandlerei.“ (Helmut M. Widmann)

Kurier, 10. Juli 1984: Kein Staatsanwalt für Nestroys Nachtwandler

Biedermeier mit Brüchen, Vormärz ohne Schnörkel gibt’s bei den Nestroy-Spielen im Schloßhof Rothmühle in Schwechat. Sympathisch der direkte Zugriff, mit dem das Liebhaberensemble sich die Posse „Die beiden Nachtwandler oder das Notwendige und das Überflüssige“ aneihnet. Ein entschlossener Strich am Anfang, und schon ist man mittendrin in einer Märchenhandlung, in der die Wirklichkeit bloßgestellt wird.

Daß einer, dem alle Wünsche erfüllt werden, zur Unbescheidenheit tendiert – solche Erkenntnis, von Nestroy am Beispiel des Seilermeisters Faden demonstriert, vermittelt auch die Lektüre der Seite 2. In Schwechat fügt sich, ohne Staatsanwalt, durch Nachsicht alles zum Guten. Nestroy knöpft sich die Menschennatur vor, nicht die Obrigkeit.

Die Abgründe, in die er den Blick freigiebt, sind die der Seele. Peter Grubers Inszenierung, hanswurstig insgesamt, drängt die Momente der Besinnung in die Couplets. Da ergibt sich, nicht zuletzt durch die mit wenigen Tönen den Nerv treffende Musik von Herbert Ortmayr, manchmal eine grübelnde Traurigkeit, das schwarze Unterfutter der buntscheckigen Späße.

Erstaunlich, mit welcher Unbefangenheit und wie dosiert die Couplets ans Publikum gebracht werden. Die Spielfreude der Akteure wirkt ansteckend, besonders Robert Herret als Strick und Susanne Urban als dessen Geliebte leben sich in ihren Rollen aus. Peter Wittbergers Faden hat den Reiz tapsiger Arglosigkeit, Heidi und Hildegard Lerner spielen anmutig mit.

Eine unterhaltsame Vorstellung für laue Sommerabende. Nestroy macht an festen Bühnen oft weniger Freude. (Kurt Kahl)

Neue Kronenzeitung, 13. Juli 1984: Das Glück am Faden

Das Märchen vom großen Glück, das Fortuna über ihre Schützlinge ausgießt, hat Nestroy in seinen „Beiden Nachtwandlern“ ganz nüchtern aufgelöst. Hinter Aufstieg und Fall des Seilermeisters Faden steht die blasierte Wette zweier Millionäre: Kann Geld den armen Teufel glücklich machen? Wird er sich mit dem „Notwendigen“, dem bloßen Wohlstand, bescheiden? Oder wird er Macht und Einfluß den „guten Geistern“ des Regimes streitig machen?

Wie schon in den letzten Jahren erarbeitete Regisseur Peter Gruber mit der Laienspielgruppe Schwechat (Schloß Rothmühle) einen Nestroy, der sich sehen lassen kann. Witzig, kritisch, voll ausgelassener Spielfreude, präsentieren die Schwechater ihre „Beiden Nachtwandler“ so aufgeweckt und munter, daß man einen Ausflug zum Schloß Rothmühle ruhigen Gewissens empfehlen kann. (AW)

Niederösterreichische Nachrichten, 3. Juli 1985: Happy-End auch für den Maßlosen

Plötzliches Verstummen des Premierenpublikum. Alles blickt gebannt auf die Bühne, wo in wenigen Sekunden „Die beiden Nachtwandler“ oder „Das Notwendige und das Überflüssige“ gespielt wird. Unausgesprochene Fragen hängen in der kühlen Sommernachtsluft: Wie wird es heuer sein? Wird das St.-Jakob-Ensemble anläßlich der 12. Nestroyspiele seinem Ruf gerecht werden?

Obwohl Nestroy sein Stück selbst als eine Zauberposse definierte, verbirgt sich hinter der vordergündigen Poesie eine ziemlich scharfe Gesellschaftskritik seiner Zeit.

Das Stück wurde 1836 uraufgeführt, also zu einer Zeit, wo das Volk sich noch stumm gegen die sozialen Mißstände auflehnte, um dann 1848 sein volles Recht zu verlangen.

Der Seilermacher Faden geht bei Vollmond gerne über die Dächer spazieren. Als er wieder einmal in der Nacht traumwandelnd spazieren geht, verjagt er nichtsahnend Einbrecher, die in das Zimmer von Graf von Hauert eingestiegen sind. Graf von Hauert möcht sich erkenntlich erweisen, und gemeinsam mit seinem künftigen Schwiegervater, Graf von Wachfeld, erklärt er Faden, daß ihm alle Wünsche erfüllt werden, solange sie nicht überflüssig sind. Sollte er Überflüssiges verlangen, wird ihm auch das Notwendige wieder genommen werden.

Diese Auflagen der beiden Grafen zeigt den damaligen Standesunterschied. Das Volk hat zwar ein Recht auf das Lebensnotwendige, doch der Luxus bleibt nur einigen Auserwählten vorbehalten.

Angefeuert durch seine Braut, steigern sich Fadens Wünsche ins Maßlose. Als er schließlich den Zopf des Grafen von Wachfeld fordert, überspannt er den Bogen, und sein Reichtum löst sich in Nichts auf. Der Zopf verkörperte damals die Macht, da ihn nur Aristokraten tragen durften.

Da bekanntlich Märchen immer gut ausgehen, endet diese Zauberposse mit einem Happy-End und jeder bekommt das Glück, das ihm standesgemäß zusteht.

Robert Herret, als Geselle Strick, versteht es gekonnt die für Nestroy so typischen Wortspielereien publikumswirksam darzubringen. Bei ihm weiß man nicht mehr: „Ist er ein Amateur oder ein Profi“?

Die Rolle des Fadens ist für Peter Wittberger wie maßgeschneidert. Susanne Urban als Hannerl wirkt stellenweise zu altjungferlich. Hildegard Lerner ist das fesche, resche Stubenmädel, das nicht auf den Mund gefallen ist. Graf von Hauert wirkte anfänglich unecht, bis er sich dann in seine Rolle hineinlebte. Sein Schwiegervater, Erika Stephan, ist der interessante, mysteriöse Geist.

Herbert Ortmayr, als musikalischer Leiter, bringt flotte, spritzige Einlagen, die gut zu dem Stück passen. Alles in allem ist dem Regisseur Peter Gruber wieder eine sehenswerte Nestroy-Interpretation gelungen! (Claudia Rismondo)

Badener Rundschau, 12. Juli 1984: Ein vergnüglicher Sommerabend

Im Schloßhof Rothmühle in Schwechat spielt die Theatergruppe „Sankt Jakob“ unter der Leitung des Wiener Regisseurs Peter Gruber heuer zum zwölften Male Nestroy. Diesmal ist es die psychologisch ungemein feine Posse mit Gesang „Die beiden Nachtwandler oder das Notwendige und das Überflüssige“. Damit haben die Schwechater Laienschauspieler wieder einmal bewiesen, daß sie nicht nur ausgezeichnete Nestroy-Interpreten sind, sondern auch die Fähigkeit besitzen, sich unbekannteren Stücken anzunehmen.

Dem überaus informativen Programmheft entnehmen wir hiezu: „Die beiden Nachtwandler“ ist ein zu Lebzeiten Nestroys sehr erfolgreiches, in unseren Tagen aber eher selten gespieltes Stück. Im Jahre 1836 geschrieben, markiert es – formal und inhaltlich – den Übergang vom Biedermeier zum Vormärz. Es enthält noch alle Elemente des traditionellen Zauber- und Märchentheaters, löst diese aber zugleich auf und kontrapunktiert sie mit harter Sozialkritik. Es ist ein Stück voller witziger Einfälle und sarkastischer Bemerkungen, die unter die Haut gehen. Ein echter Nestroy!

Die damalige Kritik (im Vormärz) wußte mit diesem Erfolgsstück, da, ebenso wie „Lumpazivagabundus“, die Frage anschnitt, ob Geld und Besitz die Charaktere verändere, nicht viel anzufangen. Sie hob Nestroys Bereitwilligkeit, nicht allzu aggressive, schwankhafte Texte zu schreiben hervor und lobte die geistige Behendigkeit, mit der er sich überaus geschickt aus der Affäre gezogen hatte.

Die „Jakobianer“ aus Schwechat boten die eindringliche Studie einer Vormärzkomödie, und jeder der heutigen Zuschauer konnte sich selbst ein Bild über die biedermeierliche „Harmlosigkeit“ des wohl schärfsten Wiener Satirikers machen. Denn diese Aufführung, die Nestroy gab, was Nestroy ist, und wo Spaß mit Bissigkeit und grimmiger Satire gemischt wurde, bewies bei allem Possenbeiwerk gewichtiges gesellschaftskritisches Anliegen für die damalige Zeit: Nämlich die eventuelle Bereitschaft der Feudalmachthaber, dem Bürgertum Zugeständnisse an Rechten und Besitzmöglichkeiten zu machen (das Notwendige), der Forderung nach Abschaffung des Zopfes jedoch, dem Sinnbild des absoluten Herrschaftssystems (das Überflüssige) mit einem gehörigen „Feuerzauber“ zu begegnen.

Die Begegnung mit dem weitgehend unbekannten Nestroystück lohnt sich, mögen die „Nachtwandler“ auch nicht sein bestes Werk sein. Literaturhistorisch aufschlußreich ist es jedenfalls und außerordentlich vergnüglich dazu, was einen Besuch im Rothmühle-Schlößchen für alle Nestroy-Freunde fast zur Pflicht macht.

Die Inszenierung läuft sehr flott ab, der Wortwitz Nestroys wird äußerst pointiert serviert, und die Couplets samt aktuellen Zusatzstrophen kommen gesanglich und vom Inhalt her verständlich über die Rampe der Pawlatschenbühne: Regisseur Peter Gruber vertraut der umwerfenden Komik des Textes und seinem blendend agierenden Ensemble von denen wir die Hauptkomödianten vor den Vorhang rufen wollen: Robert Herret (der als quirliger Geselle Strick sein Talent für Nestroy-Rollen erneut unter Beweis stellte), Peter Wittberger (für die Hauptrolle des unbescheidenen Seilermeisters Faden geradezu prädestiniert), Franz Steiner und Erika Stephan in einer Hosenrolle (beängstigend echt als Vertreter des zopftragenden Feudaladels), die Damen Susanne Urban, Hildegard Lerner, Heidi Lerner, Elisabeth Müller, Manuela Hainzl sowie sehr überzeugend, mit schauspielerischer Intensität, Georg Wertnik (Herr von Brauchengeld) und Fritz Pfertner (Amtmann Geyer). Ehrliche Leistungen, sicherlich im Sinne Nestroys, erbrachten auch die zahlreichen Träger von kleineren Rollen. Im raffinierten Bühnenbild, vom gesamten Ensemble gestaltet, lassen sich Umbauten minutenschnell vollziehen. Als sehr gelungen dürfen die musikalische Einrichtung (Herbert Ortmayer), die Kostüme, Masken und Frisuren gewertet werden. (…) (Leo Willner)

Profil: Schlußverkauf

(…) Paradoxerweise gehen die einzigen Nestroy-Spezialisten im niederösterreichischen Sommergeplänkel unter: Seit zwölf Jahren hat sich die Amateurgruppe in Schwechat auf diesen Autor konzentriert und bringt im Schloß Rothmühle ohne Stargetümmel Interessantes zuwege. Was passiert? Heuer ist sogar die Minimalsubvention (S 30.000 ) des Bundes ausgeblieben. Im Rahmen der Werbung für den niederösterreichischen Theatersommer wird Schwechat gar nicht erwähnt. Fazit: Jedes „Burg“-Schauspiel hat seinen Preis. Nur Qualität ist unbezahlbar. (Sibylle Fritsch)

Niederösterreichische Rundschau/Volksstimme, 11. Juli 1984:
Die Illusion vom sozialen Aufstieg

Auch im zwölften Jahr ihres Bestehens beweisen die Schwechater Nestroy-Spiele, wie griffiger, heutiger Nestroy zu spielen und zu interpretieren ist. Regisseur Peter Gruber hat zusammen mit dem Amateurensemble Sankt Jakob Nestroys Posse „Die beiden Nachtwandler“ gewählt, zweifellos ein Stück stoffgeschichtlich den Übergang vom Biedermeier zum Vormärz, zu Nestroys „Volksstück“-Phase. 1836 uraufgeführt nimmt es in Grubers Inszenierung bereits viel von der kommenden bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 vorweg. Auch ihr Scheitern.

Die Fabel ist recht simpel: Die Herrschenden (repräsentiert durch zwei Adelige) versuchen ein demagogisches Experiment: Sie wollen ausprobieren, wie weit ein bankrotter Handwerker seinen „sozialen Aufstieg“ mit ihrer Hilfe treiben würde, in anderen Worten wie weit „das Notwendige und das Überflüssige“ ( so der Untertitel) zu spannen seien.

Der Seilerer Faden, einher der Nachtwandler (bei Nestroy steht dieses Symbol für den unermüdlichen Bürger der Metternich-Zeit), begibt sich auf die Aufstiegsleiter, bleibt allerdings immer in der vorgegebenen, sozialen Form. Im fünften Bild, dem Höhepunkt des Stücks, verlangt der Bürger Faden freilich „das Überflüssige“ – aus der Sicht der Herrschenden: Er will den „Zopf“ des Adels, Symbol der Unterdrückung, abschneiden, das (Metternich-)System abschaffen. Damit freilich ist die Illusion des sozialen Aufstiegs zu Ende, die realen Machtverhältnisse werden wiederhergestellt. Das Bürgertum wird mit Zugeständnissen abgespeist (brillant wie dem Faden ein „Häuschen“ am Schluß übergeben wird!), doch die Macht bleibt in den bisherigen Händen.

Grubers Inszenierung wird der Vielschichtigkeit dieses Stückes gerecht: Da wird in drei Sätzen, die in den anderen bisherigen Inszenierungen der „Nachtwandler“ völlig untergingen, die Stellung der Frau des Jahres 1836 klargemacht, da wird die Lichtregie optimal eingesetzt (immer wenn die Illusion des Aufstiegs in den Handwerkern aufsteigt, erscheint der Mond und die Sterne), da wird die völlig neukomponierte Musik von Herbert Ortmayer (mit Dessau-Eisler-Weill-Elementen) nestroyadäquat eingesetzt und der Text gegen den Strich gebürstet. Und da wird nicht zuletzt die Wiener Operettentradition im Quodlibet desavouiert, daß es die helle Freude ist (nebenbei auch die dümmliche Operettenausstellung im ersten Stock der Rothmühle).

Die Stärke der Nestroy-Produktionen in der Rothmühle liegen vor allem in der kollektiven Erarbeitung der Inszenierung, stellvertretend für alle Mitwirkenden seien Susanne Urban, Robert Herret und Peter Wittberger genannt, wobei Peter Gruber immer die Impulse setzt. Dies und die Tatsache, daß es sich hier um ein stark fluktuierendes Laienensemble handelt, macht diese Aufführung doppelt wertvoll: Zum Einen setzen sie immer wieder Maßstäbe, wie Nestroy heute zu sehen ist. Zum zweiten wird hier Volkstheater im buchstäblichen Sinn erarbeitet. (…) (Günther Stockinger)

NÖ Wirtschaft, 21. Juli 1984: Scharfe Gesellschaftskritik

Bundespräsident Dr. Kirchschläger eröffnete am 6. Juli in der Rothmühle in Schwechat die 12. Nestroy-Spiele und gleichzeitig die 10. Internationalen Nestroy-Gespräche. Eine Auszeichnung, die, wenn man die plötzlich entdeckte Nestroyliebe einiger niederösterreichischer Spielorte bedenkt, die Schwechater wirklich freute. „Lachen sollen die Leut’“, zitierte der Bundespräsident Nestroy in seiner Eröffnungsrede.

Das Ensemble St. Jakob spielt noch diesen Freitag und Samstag „Die beiden Nachtwandler oder Das Notwendige und das Überflüssige“, und nichts ist von der Natürlichkeit und Frische der vergangenen Jahre verlorengegangen. Die Abgebrühtheit vieler Berufsschauspieler fehlt diesen Laien vollständig. Ursprünglich wird empfunden und Ursprünglichkeit wird über die Rampe versprüht. Der Vorstadtdichter Nestroy wird in der „quasi Vorstadt“ Schwechat dem Publikum dargeboten. Die scharfe Gesellschaftskritik des Dichters wird ausgezeichnet zum Ausdruck gebracht. Aus dem wie immer großartigen Ensemble ragen Robert Herret, der Nestroys typische Wortspielereien publikumswirksam vorträgt, Peter Wittberger, Franz Steiner und Erika Stephan heraus.

Warum die Schwechater Nestroy-Spiele noch immer nicht im „Niederösterreichischen Theatersommer“ aufscheinen und auch sonst vom Land recht stiefmütterlich behandelt werden, ist für viele Theaterfreunde unverständlich. (…) (G. W.)