Nestroy-Gespräche 1999

„Nur der geistlose Mensch kann den Harm übersehn, der überall durch die fadenscheinige Gemüthlichkeit durchblickt“

25. Internationale Nestroy-Gespräche 1999
30. Juni bis 3. Juli 1999 in Schwechat bei Wien

 

 

Das Zitat aus Unverhofft (1845) wurde zum Motto, das gleichermaßen Nestroys sprachliche Sicht auf die Welt wie die unterschiedlichen Formen und Ziele seiner Rezeption charakterisiert.

Eckart Früh (Wien) analysierte das Verhältnis der österreichischen Sozialdemokratie zwischen 1900 und 1950 zu Nestroy, seine Aktualisierung ebenso wie seine einseitige Indienstnahme oder Vereinnahmung für die eigene Programmatik (z. B. die wechselnde Rolle von Freiheit in Krähwinkel [1848]). – Horst Jarka (Missoula, USA) berichtete über seine Spurensuche „Nestroy im Exil“ und wies an einer Fülle von Dokumenten und unpublizierten Aussagen nach, welche Bedeutung Nestroy als „Überlebenshilfe“ zur Festigung eines nationalen und politischen Selbstverständnisses für die Exilanten unterschiedlicher politischer Richtungen hatte, wobei er auch Linien dieser Rezeption nach 1945 skizzierte. [1] – Elias Canetti hatte die 15 Bände der Sämtlichen Werke im Gepäck, als er ins Exil ging; Gerald Stieg (Paris) beschrieb seine von Karl Kraus beeinflußte Nestroy-Rezeption und „intertextuelle Wahlverwandschaften“ (z. B. Nestroys Das Haus der Temperamente [1837] und Hochzeit sowie die Entdeckung „metadramatischer“ Dialogverweigerung und der „Sprachmaske“). – Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck) charakterisierte Helmut Qualtingers Beziehungen als Schauspieler und Autor zu Nestroy, z. B. die Fortsetzung der Tradition des satirischen Schreibens von Rollen. Die Frage der Qualtingerschen Auffassung von Nestroy-Rollen müßte weiterverfolgt werden. – Wendelin Schmidt- Dengler (Wien) entdeckte Reflexe des Wiener Volksstücks bei den Autoren der „Wiener Gruppe“, insbesondere bei Gerhard Rühm, denen es um die Wiederentdeckung einer Kunst „vor der Literatur“ ging, z. B. auch durch die freisetzende Kraft von Parodie und Spiel. [2] – Henk J. Koning (Putten, NL) verglich das Labyrinthische in Nestroys und Dürrenmatts Komödienwelt.

Ein weiterer Themenkreis war ästhetischen und stilistischen Fragen sowie einzelnen Possen gewidmet. – Alice Bolterauer (Graz) diskutierte verschiedene Realismus-Theorien und hob Nestroys sprachliche Konstituierung von Wirklichkeit und den ,Realismus‘ als Erkenntnisprodukt des Zuschauers hervor, wobei das Lachen möglicherweise als Wirklichkeitskontrolle fungiert. – Alois Eder (Pyhra, A) wies im Kontext österreichischer Sprachgeschichte auf Nestroys artifiziellen Gebrauch der verschiedenen Sprachregister hin, wie aus Sprache und sozialer Komunikation ,Literatur‘ wird. – Andreas Böhn (Mannheim) untersuchte den Zusammenhang von „Geometrisierung, Serialität und Komik bei Nestroy“; in der Neuorganisation traditioneller Elemente und ihrer forcierten Mechanisierung zeige sich Nestroys Vorläuferschaft der Moderne. – Gustav Frank (Thalmässing, D) sah in Unverhofft (1845) eine literarische Spiegelung von Großstadterfahrung, ähnlich wie in zeitgleicher Prosa, und wies auf mögliche neue Einsichten der Lektüre unter der Perspektive von „Gender Studies“ hin, so z. B. zur Rolle der Sexualität in Nestroys Vaudeville-Bearbeitungen. [3] – Die Schwechater Inszenierung zeigte überraschende Parallelen zwischen Possenmechanik und moderner Boulevard-Dramatik, von Peter Gruber sozialkritisch aufpoliert.

Louise Adey Huish (Shenington, GB) sah in den von ihr edierten Possen der Jahre 1838/40 (Gegen Thorheit giebt es kein Mittel, Die verhängnißvolle Faschings- Nacht, Der Färber und sein Zwillingsbruder, Der Erbschleicher) ein Experimentieren Nestroys mit allen Elementen der Posse im Kontext der Zuschauererwartungen, z. B. durch eine Mischung der genrespezifischen Muster von Besserungsstück und Vaudeville im Blick auf Sympathielenkung beim Publikum. Insbesondere hob sie die weiblichen Rollen als wesentliches Strukturelement der Possen zwischen 1838 und 1840 hervor. – Peter Branscombe (St. Andrews, GB) zeigte an den Parodien Tannhäuser (1857) und Lohengrin (1859) und ihrer Editionsproblematik (u. a. Frage der Autorschaft Nestroys und der Zensur) den komplexen Hintergrund der Wagner-Rezeption in Wien (u. a. Rolle von Johann Strauß als Vorreiter), auch, wie sich Opern und Parodien auf dem Wiener Theater wechselseitig förderten.

Walter Schlögl (Wien) wies an exemplarischen Ausschnitten aus dem von ihm transkribierten Tagebuch (1781–1830) des Komponisten Wenzel Müller auf die Bedeutung von Tagebüchern als Quellen der Theatergeschichte hin. – Richard Reutner (Debrecen, H) berichtete über Theatermanuskripte von Bäuerle, Meisl und Gleich in der Széchenyi-Nationabibliothek in Budapest, was zu einer Diskussion grundsätzlicher Probleme der Edition von Stücken des Wiener Volkstheaters vor Raimund und Nestroy anregte. –W. Edgar Yates (Exeter, GB) gab einen Arbeitsbericht über Editionsprobleme der dramatischen Quodlibets und ihrer Vorspiele sowie über Schwierigkeiten, Nestroys Autorschaft bei den Quodlibets vor 1834 zu bestimmen.

Daß „Rechts und Links“ mehr als nur technische Audrücke für Bühnenpositionen sind, sondern ,bedeutende‘, akzentuierende und blicklenkende Funktion haben können, bewies Urs Helmensdorfer (Zuoz, CH) an schlagenden Beispielen. Bei Nestroy komme das Spannende, Akzente Setzende meistens von rechts; es lohne sich, die Bühnenbilder genau zu ,lesen‘.

Die von Wolfgang Häusler (Wien) geleitete Exkursion führte zu „echten und künstlichen Ruinen“ nach Mödling, zur Burg Liechtenstein und in die Brühl, von Beethoven als „göttlich“ bezeichnet, von Nestroy aber, anders als Raimund, nicht als stadtnahes Reiseziel wahrgenommen.

 

 

[1] Vgl. auch S. 32 und 64 f.; zur Rezeption nach 1945 vgl. Evelyn Deutsch-Schreiner: Theater im ,Wiederaufbau‘, Zur Kulturpolitik im österreichischen Parteien- und Verbändestaat, Wien 2001.
[2] Vgl. auch Wendelin Schmidt-Dengler: Die Einsamkeit Kasperls als Langstreckenläufer, Ein Versuch zu H. C. Artmanns und Konrad Bayers Dramen, in: verLockerungen, Österreichische Avantgarde im 20. Jahrhundert, hg. v. W. Sch.-D., Wien 1994, S. 75–93; Johann Sonnleitner: Hanswurst und Kasperls Verschwinden und Wiedergeburt in der Wiener Avantgarde, in: Jeanne Benay / Gerald Stieg (Hg.): Österreich (1945–2000), Das Land der Satire, Bern […] 2002, S. 11–27.
[3] Gustav Frank: Nestroys Unverhofft: Zur Kritik am Vaudeville in Wien, Recherches Germaniques 30 (2000), S. 47–69.